René Oberholzer


Sonntags

 

Kürzlich habe ich im Auto geweint. Und ich weiss nicht mehr genau warum. Es hat mich einfach überkommen. Vielleicht lag es an der Musik aus dem Radio, vielleicht am Wetter, vielleicht am Verkehr, vielleicht an der Tatsache, dass es Sonntag war und ich auf einer Landstrasse angehalten hatte.

 

Seither fahre ich jeden Sonntag zum selben Ort auf der Landstrasse zurück, warte auf die passende Musik, den passenden Verkehr und das passende Wetter. Irgendwann werde ich sicherlich wieder einmal weinen können.

 

Weiss lackiert

 

Die Eltern freuen sich

Über das neue Auto

Weiss lackiert

Zum Andenken

An ihren Sohn

 

Gefallen sei er

Im Krieg

So ein Auto

Hätte er sich

Immer gewünscht

 

Aus der Beihilfe

Für tote Soldaten

Sei das Auto bezahlt

Ziel der ersten Fahrt

Sei der Friedhof

 



Der Betrug

 

Der Demagoge
Wollte nicht gehen
Sein Volk hatte
Ihn abgewählt


Der Demagoge
Sprach von Betrug
Sein Volk hatte
Jede Stimme gezählt


Der Demagoge
Wollte nicht gehen
Seine Frau sagte
Sie werde gehen


Der Demagoge
Sprach von Betrug
Und hatte sogar
Für einmal recht

 


 

René Oberholzer lebt und arbeitet seit 1987 als Oberstufenlehrer, Autor und Performer in Wil/Schweiz. Schreibt seit 1986 Lyrik, seit 1991 auch Prosa. War Mitbegründer der literarischen Experimentiergruppe "Die Wortpumpe" (mit Aglaja Veteranyi), ist Mitbegründer der "Autorengruppe Ohrenhöhe", Mitglied der Autoren der Schweiz (AdS), des Zürcher Schriftstellerverbands (ZSV) und des Bundesverbandes junger Autoren (BVjA). Erhielt 2001 den Anerkennungspreis der Stadt Wil für sein literarisches Schaffen. Gewinner des 23. Nahbellhauptpreises 2022.

Homepage: www.reneoberholzer.ch
Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Oberholzer

 


Godot

 

Wir hocken hier und warten
Dass Beckett uns erlöst
Mit seinem Godot


Wir hocken hier und gähnen
Weil nichts wirklich passiert
Das war aber früher schon so


Und dennoch
Haue ich heute über die Stränge
Und esse 4 fette Käsesandwiches


Und dennoch
Schneide ich mir die Haare kurz
Tanze barfuss im kalten Schnee


Und dennoch
Lasse ich mich rücklings fallen
In die Arme schöner Frauen


Und dennoch
Singe ich DON'T STOP
In die eisige Winternacht


Wir hocken hier und warten
Auf Becketts Godot
Er ist bereits unter uns

 


 

Publikationen:


"Wenn sein Herz nicht mehr geht, dann repariert man es und gibt es den Kühen weiter"
(39 schwarze Geschichten) (2000), Verlag Im Waldgut in Frauenfeld.
"Ich drehe den Hals um – Genickstarre" (92 Gedichte) (2002), Nimrod-Literaturverlag in Zürich.
"Die Liebe wurde an einem Dienstag erfunden" (120 Geschichten) (2006),
Nimrod-Literatur-verlag in Zürich.
"Kein Grund zur Beunruhigung" (236 Gedichte) (2015), Driesch Verlag in Drösing.
"Sehnsucht. Mit Weitblick" (80 Gedichte) (2020), Klaus Isele Editor in Eggingen
"Das letzte Stück vom Himmel" (80 Gedichte) (2021), Klaus Isele Editor in Eggingen


Gedichte und Kurzgeschichten in Anthologien, Zeitungen, Literaturzeitschriften und Online-Portalen im gesamten deutschsprachigen Raum (über 3000 Einzeltexte). Einzelne Texte sind auch ausserhalb des deutschsprachigen Raums übersetzt und veröffentlicht worden.


Geschichtsträchtig

 

Es ist nur ein Baum
Dieser Punkt in der Landschaft
1940 der Zweite Weltkrieg
Deutsche Soldaten als Besatzer


Unter dem Baum
Haben sich viele geküsst
Die ewige Liebe geschworen
Ringe an die Finger gesteckt


Es ist nur ein Baum
Der viel gesehen hat
1944 weibliche Glatzköpfe
Erschiessungen


Im Frühling blühen Rapsfelder
Im Winter liegt Schnee
Verdeckt die Spuren des Krieges
Bis zum nächsten Frühling


Es ist nur ein Baum
Stumm wie seine Verwandten
In der friedlichen Umgebung
Da kann man sich gut erholen


Die Kirche steht noch im Dorf
Es gibt ein Kreuz auf dem Hügel
Es gibt einen kleinen Laden
Das Leben ging weiter


Es ist nur ein Baum
Sein Schatten ist lang
Seine Äste sind gefährlich
Da konnte man hängenbleiben


Ich betrachte die Rinde
Ein eingeritztes Herz
1948 nach dem Krieg
Rudolf + Suzette


Es ist nur ein Baum
Und doch ist er älter als alle
Ein Zeuge von damals
Der Bauer will ihn fällen


Weg mit diesem Schandfleck
Ein neues Dorfimage muss her
Die Kirchturmglocke schlägt
Es ist Viertel nach Zwölf


Es ist nur ein Baum
Ab und zu wird er fotografiert
Fremde aus dem Ausland
Bringen aber fast kein Geld


Ein alter Mann im Dorf
Der kaum mit jemandem spricht
Kennt viele Geschichten
Auch die der Kollaborateure


Es ist nur ein Baum
Ein Strich in der Landschaft
Nicht mehr lange
Bald schon Geschichte