BEUYS WAR GESTERN - LYRIKFILZUNDFETT IST VON JETZT

Der folgende Essay veranlasste das G&GN-INSTITUT zur Neueinführung einer zusätzlichen Preissparte beim POESIEPREIS.DE ab 2022, dem NAHBELLNEBENPREIS "für den unerwarteten Essay", den der Autor KONSTANTIN AMES konsequenterweise ablehnte (die Logik geht aus seinem Essay selbst hervor!) und daher als NULLNUMMER in der Nahbellpreis-Galerie geehrt wird. Wir gratulieren dem Autor zu seiner kritischen Analyse einer bestimmten Lyrikmikroszene, der auch das G&GN-INSTITUT durch zahlreiche persönliche Erfahrungen seit langem skeptisch gegenüber steht.


Konstantin Ames im Juni 2021

Grußwort zum Endebeginn des Lyrikbetriebs

Es ist eine Zahl, die mich zuerst darauf brachte – und Zahlen achten wir doch alle über alles; es ist die Zahl 600: Das ist die Zahl der Einsendungen zum Jahrbuch der Lyrik 2021; sie findet sich im Schutzumschlag dieser „bedeutendsten jährlichen Sammlung neuester (!) deutschsprachiger Gedichte“. – Aus Hochachtung vor den Kollegen Bonné, Kraus und Callies tat ich etwas, das ich mir geschworen hatte, nicht mehr zu tun. Ich schickte Poeme zum Lyrikjahrbuch; ein performatives Gedicht (2019), ein Fakesonett (2020) und eine semantische Übersetzung (2021). Alle drei Dingelchen kamen nicht auf den „Nein-Stapel“ (Chr. Buchwald), sondern wurden abgedruckt. Als ich ein Jahrzehnt zuvor in zwei Jahrbüchern (2008f.) vertreten sein durfte – und deshalb brachte mich die Zahl 600 ins Grübeln – las man in den Nachworten von Uljana Wolf und Ulf Stolterfoht von einer jeweils vierstelligen Zahl an Einsendungen ... 9000 ...  8000 ... Ein Jahrzehnt später haben wir es mit einem Gutteil Einsendungen weniger zu tun. Selbst wenn alle Einsender die maximale Zahl von zehn Gedichteinsendungen ausgereizt haben sollten, wären zum amtierenden Jahrbuch nicht mehr als 6000 Einsendungen eingegangen.

 

Für die folgenden Fingerzeige verwende ich aus Gründen der Sprachökonomie und -ästhetik das generische Maskulinum; jede* und jeder* sind von Herzen gemeint.

 

Das JbdL wird an eine Institution übergeben, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Auslese zu betreiben. Ich meine nicht den Akt des Auswählens, ich meine gezielte Elitebildung, und die dazu passende Attitüde mit allen Unerfreulichkeiten für  a l l e  Beteiligten. Diejenigen, die nicht ganz so frisch dabei sind, werden sich wahrscheinlich erinnern: Anfang der 2010er war aufs Jahr gerechnet von höchstens etwas mehr als einem Dutzend Neuerscheinungen an Gedichtbänden die Rede. Der so sprach, Thomas Wohlfahrt, wurde aufs schönste beschieden von Michael Gratz. Eine kurze Zeit nach dieser Affäre wurden die Neuerscheinungen tatsächlich alljährlich dokumentiert; in der Zeitschrift Gegenstrophe. Es gibt sie nicht mehr. Es gibt stattdessen eine Liste mit Adelspatenten, die Lyrik-Empfehlungen. Es hätte geben sollen ein Zentrum für Poesie. Es nennt sich dieses Zentrum „i. Gr.“ mittlerweile: Haus für Poesie; was m.E. nichts anderes ist als die griffige Kurzform für: Haus für Freunde des Hauses für Poesie.

 

Das Lyrikjahrbuch wird ab Ausgabe 2022 vom einzigen umgänglichen und patenten HfP-Mitarbeiter, von Matthias Kniep, und – für die genannte Ausgabe – von Nadja Küchenmeister, Schöffling-Autorin, editorisch bzw. co-editorisch betreut. Auch die zuvor genannten, durchweg schätzenswerten, Kollegen Bonné und Callies sind bei diesem Verlag. Der bis vor kurzem im Vergabegremium des Literaturfonds sitzende Verleger Klaus Schöffling profitierte demnach selbst davon, von ebendiesem Fonds gefördert zu werden. Natürlich deckte das nur die Kosten. Klar. Ein kräftiges Gschmäckle hatte diese mühelose Beschaffung von kulturellem Kapital (Bourdieu) für mich gleichwohl. Pro domo war früher (nicht lange her) richtig unsäglich. – Wo blieb der Aufschrei der Neputismus-Watch, der 2013 so prompt erfolgte, als die Generation Sunnyboy in diesem Forum kritisch beguckt wurde?

 

Lyrik ist ein family business geworden. Die Zuständigkeit dafür liegt nicht bei der BKM, wirklich nicht, sondern beim Wirtschaftsministerium – Abteilung Mittelstandsförderung. Auch von daher nimmt das Interesse an der Sparte Lyrik beim kunstsinnigen Teil der Republik ab: Freunde stellen Freunde vor, nichts sonst. Wer will wissen, wer warum wen wie sehr mit welchen Mitteln mag? Es wird solche Zentralisierungsversuche weiterhin geben, aber nie ein Zentrum. Großmannssüchte enden mit zuverlässiger Publikumsverödung. Poesie heute krankt daran, dass institutionalisierte Elitelangweiler eine ganze Sparte in Verruf bringen. Und nicht selten versuchen die institutionalisierten Häuser die freien Szenen zu nützlichen Handlangern zu machen. Als säße man im selben Boot ...

 

Brisant wird diese Beobachtung nun erst recht in Verknüpfung mit der Frage: Warum päppelt ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen überhaupt so etwas wie eine Königsdisziplin – finanziert also im Grunde verkappte Demokratieverachtung? Spitzenlyrik in Deutschland ist weiß und bürgerlich, eben homogen hochdeutsch und allzeit karrierebereit. Cliquistische Identitätspolitik („wehrhafte Poesie“) scheint auch diese Aspekte aus den Augen zu verlieren.

 

Mir kann es mit dem Ableben der Lyrik gar nicht schnell genug gehen. Leider werden immer neue Lebenserhaltungsmaßnahmen eingeleitet. Schwieriglyrik, Tierlyrik, Hörlyrik. Ob das nun klimatisch oder antiklimatisch ist, sei jedem selbst anheimgestellt. Die drei eben genannten Peaks sind jedenfalls unter dem Rubrum „Interessantismus“ unterzubringen. So lässt sich Förderkohle auf scheinbar ganz natürlichem Weg herbeischreiben. Vielleicht ist das auch eine Art Nature-Writing ...

 

Man wohnt einer Farce bei. Alle Beteiligten wissen, dass es kein nennenswertes Publikum für Lyrik mehr gibt. Von daher ist der schelmisch-rhetorische Aufwand zu erklären, mit dem Kritiker des lyrischen Einerleis von vornherein ins kommunikative Abseits gedrängt werden sollen: „Ihr lest keine Lyrik? Seid ihr wahnsinnig? – Ein klasse Lehrbeispiel in Sachen Normalismus. Selbstgenügsamer ist hierzulande nur das Filmförderwesen.

 

Um einige heroisierte Beuys' and Girls ist eine Entourage entstanden. Eine Legitimation dafür kann aber nicht durch Gunstbezeugungen und die ständige Förderung derselben vier, fünf Nasen geschaffen werden; einfach weil das System Kunst nicht nach sympathisch/unsympathisch codiert ist, sondern nach neu/kitschig. Alles andere ist ein Rückfall in die Zustände der Gruppe 47, oder waren sie nie vorbei? Warum bringt der Dlf am 6. Mai 2021, den sich die Dichter Christian Morgenstern, Franz Mon und Erich Fried als (runde) Geburtstage teilen, zwei Beiträge zu Fried, aber jeweils 0 („null“) zu Mon und Morgenstern? Ist Sehereiauskunftei unbedingt wichtiger als überbordende Kreativität und poetischer Humor?

 

Die Rede von einem Lyrik-Boom trifft durchaus zu, bloß: Lyrik hat in der beschriebenen soziokulturellen Konstellation nichts mehr mit Kunst zu tun, sondern ist ein fast durchgängig verfilztes Kulturkapitalisierungsräderwerk. Lyrik hat aufgehört, eine präzise Gattungsbezeichnung zu sein, sie selbst ist zum Problem geworden. In der Gleichsetzung von Lyrik mit Poesie ist im oben skizzierten Kontext das Wort Lyrik zu einem Schibboleth geworden. Wer es verwendet, muss sich darüber im Klaren sein, dass er zur Kunstgentrifizierung bereitwillig beiträgt. Das ist opportun, aber – aus Sicht eines Kunstfreunds – so unappetitlich wie jene bräsige Wortmeldung, die „Lyrik“ und „Körperhygiene“ und „Benehmen“ und „perfekte Umgangsformen“ in einen Satz drängte. Es handelt sich dabei um den bisher größten anzunehmenden klassistischen Ausrutscher.

 

Denis Scheck wusste sicher, was er tat (so sein claim), aber ich vertraue ihm und seinen Fließbandmeinungen nicht. Deswegen leide ich aber noch lange nicht – wie es ein Meme der Tempelwächter suggeriert – an einer Aufmerksamkeitsstörung. Dieses kleinkarierte gatekeeping-mindset tröpfelt allmählich in die unteren Ränge hinab: Was haben Nachwuchslyriker in Vergabegremien verloren? Wer selbst zu 100 % von Förderungen abhängig ist, kann kein unabhängiges Urteil fällen, sondern wird seine Entscheidungen strategisch treffen (müssen). Das ist dann keine Kunstförderung mehr, sondern institutionalisierter Tribalismus. Ein feste Burg ist unser Kook! Keiner hasst wirklich Gedichte, aber  d i e s e  Lyrik ist ein Elitenprojekt für Claqueure und Adepten.

 

Wer nicht in der Lage ist, vier Jahre ohne Staatskohle weiterzumachen, ist kein Dichter. Wer drei Stipendien und einen Förderpreis braucht,  b e v o r  er debüthalber aus dem Knick kommt, soll nachhaltiger handeln lernen. Das steht schon im Biosupermarkt um die Ecke an der Kasse: „Mehr als genug ist zu viel“. Klare und faire Regeln braucht das Kunstspiel, sonst ist es kein Spiel, sondern nur das arme Lieschen Leben, das es sowieso schon gibt. Ich schneide Fotos der letzten unbelehrbaren Leichenanspitzer aus, klebe sie in den Neckermannkatalog, den es auch nicht mehr gibt.

 

Eine ganze Lyrik-Generation steht in den Startlöchern. Sie wird nichts zu sagen haben. Wie die Generation zuvor. Gebt diesen „einzigartigen“ Subjektivitäten (Darmstadtjury) Geld. Am meisten denen, die am gründlichsten schweigen; völlig rille, ob en plein air oder downtown. Und die wortbrüchigen Verdachtsmomente müssen blechen, aber so richtig.

 

Man wird noch träumen dürfen: Dringlichkeitssimulationen (aktuell: Anthropozän) werden als das behandelt, was sie sind, als Ausreden von Leuten mit Geltungsdrang, nicht therapierter Infamie und Drittmittelbedarf. Noch mehr trotziger Optimismus: Die ersten Dichter, die Preise ablehnen werden, sind schon geboren. Dann stirbt König Lyrik endgültig. Übernehmen wird das Volk der Poesien.

 

Nur ein Narzisst guckt vom Podium auf die Mitfinalisten herab, und strahlt oder heult fette Tränen in die Pressekameralinse, so gerührt ist er von sich selbst ...  jeder halbwegs selbstkritische Mitmensch kommt im Fall des Bepreistwerdens ins Grübeln. Ich bin als Preisträger Teil des Problems, wenn ich auch nie die Dummdreistigkeit besaß, einen leer ausgegangenen Mitbewerber zu fragen: „Naaa, wie fühlst du dich jetzt?“ Umgekehrt sind mir diese und manche andere Kleinbürgerlichkeiten schon begegnet ...

 

Preise sind als Mittel der Poesieförderung völlig ungeeignet. Es ist an der Zeit, Teil der Lösung zu werden; gerade angesichts des sich nur vermeintlich auflösenden Kulturstaus.

 


Verleumdungsversuche entfälscht

Marius Hulpes Behauptung


Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet meine Verzichtserklärung [G&GN-HINWEIS: ORIGINALQUELLE DER ERSTVERÖFFENTLICHUNG BEIM MAGAZIN "SIGNATUREN"] mit soviel eilfertiger Fehlerkommunikation repliziert wird. Begegnungen in der Oper, die nie stattfanden, werden erfunden; fliegende Türen ebenfalls. Von welcher Wut und welchem Hass Marius Hulpe wohl sprechen mag? Ich bin ihm nämlich noch nie begegnet. Nicht vor dreizehn Jahren, nicht sonst irgendwann.

 

Zur fraglichen Zeit (Leipziger Buchmesse 2008) hatte ich keine Zeit, mir irgendwelche Debütlesungen in der Moritzbastei anzutun, weil ich dringend (und dies nachweislich) eine Seminararbeit über Robert Sigls Filmmärchen „Laurin“ fertigstellen musste. Ich konnte Herrn Hulpe gegenüber überhaupt nicht in irgendeiner Weise handgreiflich geworden sein. Sofern Hulpe anderes behauptet – vielleicht in gutem Glauben daran, dass „ein leipziger lyriker“ ihn schon richtig informiert habe – verbreitet er eine Unwahrheit. Sollte er nach Aufklärung dieses Sachverhalts allen Ernstes an seiner  wahrheitswidrigen Behauptung festhalten, begeht er die Straftat der Verleumdung (§ 187 StGB) ... Ich war entsetzt, wie leichtfertig dieses Narrativ (ob nun hochnotpeinlicher Irrtum oder böswillige Denunziation Hulpes) weitererzählt und ungeprüft als Tatsache anerkannt wurde. Marius Hulpes wahrheitswidrige Behauptung hat einen ganzen Reigen an Vorwürfen und Beleidigungen nach sich gezogen. Von denen die Täter sicher sein konnten, dass dies meiner Kenntnis solange entzogen bliebe ... bis sich die Fama durchgesetzt hat: Ames ist ein Gewalttäter. Ein Gewalttäter ist nämlich schneller zu entmenschlichen und zum Sündenbock zu stempeln. Das kam dem Bedürfnis nach Revanche sehr entgegen. Dachten sich welche: Ames ist sowieso eine persona non grata, also her mit dem Framing! Schon Tristan Marquardt und Max Czollek und Ann Cotten haben 2013 so gehandelt. Ich wurde als Nepotist, verbaler Aggressor und als „beschränkt“ bezeichnet. Hulpes Geschichte kann hier perfekt andocken. Seine Story klingt plausibel. Wer kann dreizehn Jahre später noch beweisen, dass er ... dummerweise (für Hulpe) kann ich das. Im übrigen liegt die Beweislast nicht bei mir. Auch andere Ansinnen setzen die o.g. Unterstellungen fort. Der Faktencheck sollte in einer posttrumpistischen Ära das A und O sein. Der einwandfreie Umgang mit Kontexten kommt gleich danach.

 

„wehrhafte Poesie“ meets „family business“ – kurzer Hinweis auf den Kontext


Den Vorwurf des Judenhasses und der Gewaltätigkeit in meine Richtung zu dräuen, das ist gleich doppelt infam: Ein Teil meiner Familie kam als ideologisch Verfolgte in den Nazilagern um; mein Urgroßvater 1940 in Mauthausen („Vernichtung durch Arbeit“) und meine Urgroßmutter 1945 in Ravensbrück (Hungertyphus).


Den Slogan „wehrhafte Poesie“ habe ich nicht mit Max Czollek in Verbindung gebracht, sondern mit dem Literaturkritiker Alexandru Bulucz („Lyrikgespräch“ im DLF-Büchermarkt vom 11.06.2021), der bekanntlich auch Lebenspartner Daniela Seels ist. Ansonsten ergäbe doch meine Formulierung „Lyrik ist ein family business geworden“ überhaupt keinen Sinn! In schöner Regelmäßigkeit empfiehlt Bulucz Kookpublikationen. Das macht ihn in meinen Augen unglaubwürdig. Weder die Heranziehung des Wehrhaftigkeitsslogans – wenn er im gegebenen Kontext betrachtet wird – noch irgendwelche anderen meiner Äußerungen lassen den Rückschluss auf Sympathien für menschenfeindliche Ideologien wie die der Nazis zu.

 

Ich dachte – nämlich als ich die Worte „cliquistische Identitätspolitik“ wählte – an Machenschaften der CDU … Wer als Kookbooksverlegerin aus den Händen des Kookbookslyrikers Steffen Popp den Mondseer Lyrikpreis entgegennimmt (Fakt), handelt pro domo, nutzt seine/ihre Stellung aus, um sich dadurch Vorteile zu verschaffen. In jedem ernsthaften Business wäre das ein Fall für die Abteilung Compliance. Und das Der-Betrieb-ist-aber-doch-so-klein-Scheinargument wird nicht wahrer, je öfter es wiederholt wird.

 

Was ist an Auszeichnungen noch daran, wenn sofort der Verdacht aufkommen muss, dass es sich nur um das neueste Fallbeispiel praktizierter Freundlswirtschaft handelt? Es gibt mittlerweile keinen Lyrikpreis mehr, dem nicht der Makel von haarsträubenden Fehlentscheidungen anhaften würde. Das geht weit über Kook und Berlin hinaus. Dichterwettstreitliteratur entstammt einer mittelalterlich-chevaleresken Adelswelt. Das ist Gesichtspolitik geblieben, dieser ganze snobby Bella-Figura-Feschismus (sic) lässt jede Geselligkeit und jede Leichtigkeit flöten gehen. Ich will mich mit Menschen unterhalten und nicht mit Juroren oder Finalisten oder ausgepreisten Maskottchen unterschiedlichster Textwerkstätten!


Zu diesen opportunistischen und kompetitiven Verhaltensweisen passt die Selbstviktimisierung via Vergleich mit Verfolgten, Gepeinigten und Ermordeten des NS-Unrechtsstaats; dazu zählen eben auch meine Urgroßeltern. Indem ich Vetternwirtschaft als solche anspreche, täte ich etwas, das schon die Nazis getan hätten. Der hingehauchte Antisemitismusvorwurf wirkt auf mich ziemlich ruchlos konstruiert. Damit wird auch das Andenken an meine Verwandten befleckt, die damals nicht den Mund hielten, die nicht mitliefen, die unbeugsam waren. Eine traumatisierende Familiengeschichte feit gewiss nicht vorm Abdriften in totalitäre Denkweisen, das ist mir klar. Und ich habe auch kein Recht, mich mit der Geradlinigkeit meiner Vorfahren zu schmücken; tue das auch nicht. Aber ist der Gegenseite auch klar, dass solch ein persönlicher Hintergrund wie der meine dem Gedeihen antisemitischer oder autoritärer Gesinnungen wenig bis gar nicht förderlich ist? Da bin ich wenig optimistisch.

 

Missrateneres als eine Verteidigungsrede ohne Gegenangriff gibt es nicht, daher frage ich: Wie kommt es zu solchen feigen Hinterhalten? Handelt es sich um ein Grenzphänomen mangelnder Kontextkompetenz, die auf taktisches Missverstehen trifft? Ob der Vorwurf aufgrund von zeitweiliger Hermeneutikschwäche oder aus Lust am Streuen böswilliger Verdachtshermeneutik vorgetragen wurde, sei dahingestellt. So ein Vorgehen empfinde ich als autoritativ und abstoßend, es entspricht dem, was aus Personenkulten bekannt ist: Widerspruch ist unerwünscht und soll als zwecklos hingestellt werden. Tenor: Gegen uns kannst du nichts ausrichten, lass es, du bist allein!

 

Das Wursteln und den Filz zu kritisieren, nun, das hatte schon immer von den Betroffenen genau drei Reaktionen zu erwarten: (a) Beschwerde wird madig gemacht, weil der Kritiker selbst als Profiteur gilt, oder weil (b) Kritiker als Habenichts und Neider hingestellt wird oder weil er (c) moralisch oder mental verkommen ist. Nichts davon trifft auf mich zu. Es wurde aber auf verschiedene Weise der Eindruck erweckt, das dem so sei. Nachträgliches Löschen ändert nichts daran, dass ich mit einigen Gesichtern immer einen fauligen Geruch verbinden werde.

 

Ein demokratisches Gemeinwesen handelt gegen seine eigenen Interessen, wenn es solche gewaltsam kommunizierenden hegemonialen Netzwerke durch die Bereitstellung finanziellen und kulturellen Kapitals stärkt. Das geht nämlich auf Kosten der Vielfalt poetischer Schreibweisen. In der „Gesellschaft des Spektakels“ (Guy Debord) wird Kreativität durchgängig mit Sichtbarkeit verwechselt. Darauf beruht letztlich der Kookflow, nicht auf Spitzenleistungen, z.B. auf einem Vorsprung an Talent oder auf ästhetisch überzeugenderen Konzepten; und erst recht nicht auf gekonnter Vortragskunst … Wie diese Sichtbarkeiten produziert werden, welche Netzwerke wen ermöglichen und wen warum verhindern, das lohnt des Erforschens. Die Forschenden müssen dazu nicht mit den sie interessierenden lyrikdenkenden oder poesieschaffenden Personen eng befreundet sein.

 

„Music and medicine – itʼs like combining the two …“ (Tom Waits zu Iggy Pop)

 

Einen Gegenentwurf zu dieser – vielleicht sollte ich sagen mitteextremistischen – Welt stellt für mich das Werk von Tom Bresemann dar. Tom wird deshalb nicht von ungefähr aus den Reihen von Kookbooks als Minderdichter und als Dummbatz verunglimpft. Was steckt hinter dem Bedürfnis, in der Person von Tom  d e n  Impulsgeber, Netzwerker und Literaturaktivisten Berlins als Künstler delegitimiert sehen zu wollen? Auf welcher Basis sind seine Gedichte, sein Meme vonjeglichemwort, seine Platten, seine Kassetten schlecht oder weniger gut als die Publikationen im Kookbookslook? Erhaltene Preise sind doch keine Indikatoren für Talent und – mit Verlaub – für Arsch-in-der-Hose-haben. Ein zweiter Tom Bresemann in diesem familiarisierten Konglomerat, und es würde entflechteter zugehen. So denken alle, die Toms Leserinnen* und Leser* sein dürfen und die ihn gut kennen. Tom Bresemann ist nicht nur Textdichter oder Mikrofonpraktikant, sondern Berliner Dichter, d.h. er ist ideenreich geblieben, aber ohne mediumistisch oder sonstwie egoman oder zynisch geworden zu sein. Er ist stattdessen fair und offen und echt. Man muss bisschen was abkönnen bei ihm, das stimmt. Toms und meine Geschichte hat ganz und gar nicht als Freundschaft begonnen. Wir sind keine Komplizen, wie das im Verlauf des Chats unter voller Ausreizung der Konnotation des Worts (Verbrechen) behauptet wurde. Wir sind viel mehr, Tom und ich sind echte Freunde. Deshalb gehören wir auch nie denselben Gruppen an. Das ist überhaupt nicht nötig.

 

Resümee und Ausblick


Die bisher unangefochtene Lyrikelite Berlins wurde in diesem Shitstorm selbst schwer beschädigt: „Hetzmasse“ drängt sich auf, der Begriff stammt von Elias Canetti, denn unter bereitwilligem Ignorieren des Kontexts wurde der Ruf eines Menschen demoliert. Zur Flankierung dieser argumentfreien Stimmungsmache wird eine unwahre Begebenheit geschildert (Gewalttätigkeit) und auf die Person zielende Beleidigungen geäußert (Analphabetismus, Paranoia, Neid, Schreibstil, Menschenfeindlichkeit) und so fleißig wie ungeprüft weitererzählt. Ich denke ganz plötzlich daran, wie Sabine Scho unter die Vermeldung einer Juryentscheidung (Arbeitsstipendium Literatur 2012) postete: „pimpfe!“ – Nein, ein Vorbild in Sachen Gelassenheit oder maßvoller Ausdrucksweise wird sie in diesem Leben wohl nicht mehr. Und sollte sich deshalb nicht ins Glashaus und in Jurys setzen. Im Spiegel sähe sie sehr viel mehr.

 

Vom Streiflicht auf Sabine Scho weg, deren „tiere in architektur“ man nur mögen kann, und mit Blick aufs Gruppenbild sehe ich es so: Wer sich als Sprachkünstler (w/m/*) einem Verbalbukkake gegenüber Tom Bresemann und Michael Gratz und mir anschloss, tat etwas, das ihn/sie um jede Glaubwürdigkeit brachte und mitten hinein in den Kaninchenbau einer sich gegenseitig Pfründe zuschiebenden hegemonialen Gruppe trieb. Zusammenhänge wie Kook können nur florieren, sofern es Helfershelfer gibt, die dieses compliancelose Treiben relativieren oder sogar gutheißen. Ob aus Angst vor Othering („lebt in seiner eigenen bubble“) oder aus einer opportunistischen Grundhaltung heraus (immer zum Teufel damit) bliebe zu klären.


Erwachsensein bedeutet, für seine Shitstorms und seine peinlichen Irrtümer (evtl. bewussten Lügen) die Verantwortung zu übernehmen, alles andere ist Berufsjugendlichkeit im Endstadium; und lässt sich auch mit Verweis auf das Interesse an psychopathologischen Schreibweisen nicht legitimieren...

 

Mit Blick auf Verlag und Distribution und Rezeption deutschsprachiger Literatur in nationalen Kategorien zu denken (BRD, CH, Ö), wie dies im Verlauf der Wortmeldungen geschah, und sich in einem blasierten Jargon über meine Sichtbarkeit auszulassen; eine Unwahrheit zu verbreiten bzw. sie ihm gutgläubig und bereitwillig abzukaufen; meine Freunde Michael Gratz („kasper“) und Tom Bresemann („Blödheit“) zu bespucken ... das ist an Whataboutismus schwer zu überbieten und auch die gekränkte Eitelkeit der prize-winning fiddle-di-dees (Sean Bonney) kommt zum Vorschein.


Mit dem „Neustart Kultur“ kommen wir über so ein Klein-klein aber nicht voran. Preise und Wettbewerbe gilt es abzuschaffen! Sonst wird diese Selbstbedienungsmentalität zu einem massiven Kahlschlag führen, der uns alle angeht, ob wir nun Freunde lyrischer Schriftbilder oder rougher Poesie sein mögen.

 

Durch Zersetzungspraktiken und das Anschwärzen des Herausgebers Kristian Kühn wird man diese legitime Kritik nicht mehr los. Wenn Reformen hin zu mehr Solidarität nicht einmal nach den Erlebnissen und Erfahrungen im Umgang mit der Coronakrise möglich sind, was muss dann noch passieren, bevor etwas passiert? Dispute im Kolloquium reichen nicht aus. Die Zeit der vollen Taschen, der hohen Tassen und der Privilegien ist vorbei, das wissen doch alle.


Wenn wir Entscheider vor die Nasen gesetzt bekommen, die durchzusetzen vermögen, dass Kookbooks gleichzusetzen ist mit Verschrobenbooks (Boris Preckwitz), hätten wir Bookies alle ein gravierendes Problem. Vor sieben Jahren erschien das noch undenkbar; heute nicht mehr so sehr. Schaut, wie rasch sich Pluralität in Slowenien, Polen und in Österreich, Ungarn drosseln ließ. Ich warne noch einmal eindringlich davor, es bei der Ausleuchtung von Leuchttürmen zu belassen; dadurch wird Verhältnissen zugearbeitet, die wir nicht ernsthaft im Land D haben wollen. Entsolidarisierungs- und Faschoisierungstendenzen sind mein Thema; und nicht, ob ich genug Preise hatte.


Es gibt einzelne Kookbooksdichterinnen* und -dichter*, mit denen ich gerne weiterhin kollegial verbunden bliebe, weil sie integer und anschlussfähig agieren und die Sozialpraktik Poesie nicht nur vorgeblich, sondern in Tatsächlichkeit voranbringen; das sind Ulf Stolterfoht und Dagmara Kraus-Cavaillès, Uljana Wolf, Sonja vom Brocke, Georg Leß und Hendrik Jackson. Lasst euch nicht gegen mich aufhetzen!


Für den Rest gilt, dass Leute, die mich als Antisemiten und als Schläger diffamieren, als Paranoiker und als Autisten pathologisieren, um mich zu entpersonalisieren: Sie hetzen, weil ihnen schwant, offenbar zum ersten Mal überhaupt, dass ihre Lyrikproduktion in Verbindung mit dem kooktypischen Habitus jenseits ihrer Sozialimitation namens social media zusehends unbeachtet und ungehört verhallen wird.


Mich zum Sündenbock zu stempeln löst unser aller Problem nicht, das ist – um den stupenden Slogan von der „wehrhaften Poesie“ aufnehmend abzuwandeln – die wachsende Poesieverdrossenheit. Lyrikdidaktik in Schulen löst Fragen der Verteilungsfairness in keiner Weise, auch nicht mittelbar.


Die Labels Urs Engeler Editor und Luxbooks mussten aufhören, Gegenstrophe wurde eingestellt, Brüterich Press hat aufgehört und auch Fixpoetry gibt es nicht mehr. Vermisse ich alles sehr. Warum sollte Kookbooks sakrosankt sein? Wird jemand außerhalb des Systems Kook (Mehrheit) das System Kook (Minderheit) vermissen, wenn es sich nicht mehr aufrechterhalten lässt? Ihnen kann nicht daran gelegen sein, dass man sich an sie als klientelistische Staatsavantgarde erinnern wird.

 

 

 

Editorischer Layouthinweis: Hervorhebungen und 2 zusätzliche Verlinkungen wurden vom G&GN-INSTITUT eigenmächtig vorgenommen!

Für die externen Hyperlinks (außer zum NAHBELLPREIS & zu Amazon) zeichnet der Autor verantwortlich. Danke für seine gründliche Recherche!