oskar kabel

9 fragmente aus dem zyklus "hoaxlyrik - egomorphe effekte"

 

oskar kabel, geb. 11. mai 1994, lyriker, progressive poesie / nach einer reihe. jugendsünden. ziehe ich einen strich. unter notiertes. und beginne. neu. ein tausendteiliger zyklus: "hoaxlyrik - egomorphe effekte". ein poetisches experiment. ann cotten meint, ich betreibe prätentiösen solipsismus: "insgesamt klingts wie eine parodie, ein hoax" (zitat 29.4.2019). das inspirierte. mich. zur titelfindung. / instagram. publikationen 2020:

 

 

POEMiE.de Kundenrezension 20. Januar 2020

 

5,0 von 5 Sternen

DYSTOPISCH-EVOLUTIONÄRE FRAKTALLYRIK


Mein Exemplar hat einen genialen Druckfehler: der gesamte Inhalt wurde verdoppelt! Das könnte man für eine paranormale oder paranoide Folge des Titels "HOAXLYRIK" halten: der Hoaxvirus klont sich selbst... Aus 24 wurden 48 Seiten, eine zweite Erde und ein Zwillingshirn: das passt perfekt zu der apokalyptischen Atmosphäre, die von dieser dystopischen Fraktallyrik ausgeht. Der Autor eröffnet das düstere Szenario mit einer als Raumschiff getarnten Bibliothek, die der Belagerung durch Aliens entkommt, weil diese den Büchern keine Bedeutung abgewinnen können, da sie "sprachlos" sind. Im 4.Fragment erklärt Oskar Kabel dann indirekt seine Poetologie der progressiven Poesie: "die natur ist. in progress." Mit dieser Haltung einer Entwicklungspoesie anstatt prätentiöser Zwangsavantgarde lesen sich diese ersten zwanzig Fragmente seines geplanten 1000-teiligen Zyklus' wie ein oszillierendes (oder: oskalierendes!) Psychogramm der Menschheit auf der Schwelle zur neuronalen Digitaldystopie. In seinen Stakkatomix aus schockierenden Interpretationen von Weltproblemen und verschwörerischen Visionen mischt das lyrische Ich ein paar wenige Häppchen psychophilosophischer Hoffnung, die aber sofort wieder zynisch entkräftet wird. Am Ende ist man derart erschlagen von Kabels Wucht der brutalen Zivilisationskritik, daß man die Schlußzeile des 19.Fragments geradezu als Erlösung vom (Welt)Schmerz empfindet: "urschreie. sinnfragen. reset button." Danach meint man, könne im Grunde nichts mehr kommen, aber stattdessen überrascht das finale 20.Fragment mit einem beinahe versöhnlichen, tröstenden Tonfall, wenn der recht junge Lyriker schreibt: "dieses gedicht. findest du. weder auf / twitter. noch auf instagram. (...) dies ist der. / letzte virus. der sich. noch. analog. / verbreitet." Jetzt wird mir klar, warum er diesen Debutband doch nicht als ebook veröffentlicht hat, obwohl es so ursprünglich auf Facebook angekündigt war. Eine erfrischende Eröffnung des neuen Buchjahres, eine Poesie, die weder hermetische Metaphern verwendet noch Slamjargon - das ist authentische gute Poesie, die unter die Haut geht, von Parodie keine Spur!

 


POEMiE.de Kundenrezension 15. Juni 2019

 

5,0 von 5 Sternen

ÜBERFORDERUNG DER PARTEILEITUNG

 

Ist Ann Cotten inzwischen selber zur "überforderten Parteileitung" (S.161) der Lyrikszene mutiert? Ihre Bemerkung über Oskar Kabels Hoaxlyrik, dies sei prätentiöser Solipsismus oder Satire, nötigte mich, nochmals in ihren bisherigen Suhrkamp-Werken zu stöbern, um zu verstehen, wie diese Interpretation gemeint sein könnte: als arrogant vernichtende Pöbelei? oder wertschätzender Ritterschlag? oder gar selbst schon satirisch gemeint, quasi metasatirisch? - da ich Kabels Zyklus-Fragmente mitsamt Cotten-Zitat zunächst unreflektiert für das Forum/Poesiesalon des Offlyrikfestivals übernahm. Ann Cottens Versepos "Verbannt!" von 2016 liest sich wie Gischt von Wellenbrechern oder das Geschrei von Sirenen, während sie gefoltert werden: ohrenbetäubend delirisch an der Schmerzgrenze zur Inselpsychose, kurz vor dem Sadomaso-Orgasmus, als ob das gesamte Abenteuer (S.13: "jenes Abenteuer ... nur stattfand, weil Gedanken mir die Sinne raubten") ein einziger Blitzgedanke beim letzten Quickie (S.8: "Dichtung und Sex") auf der Toilette der Titanic in gefährlicher Schieflage gewesen wäre: apokalyptisch-schreibtherapeutische Weltschmerzdichtung mit metapoetischen und zugleich selbstironischen Tendenzen! Stilistisch überbordend an kryptisch-surrealen Metaphern, erinnern mich ihre geschraubten Gedanken (S.98: "Es schraubt sich das Bewusstsein in das Leben") an frühe Gedichte des Nahbellpreisträgers Jonas Gawinski, aber inhaltlich schwankt sie zwischen popliterarisch-analytischem Abgesang à la Michel Houellebeqc und der antiliterarischen Aufzählung von lexikalischen Begriffen (S.60+162: "See+..."), die wie eine Parodie auf Inger Christensen anmutet, deren Name sogar erwähnt wird: "Die Handlung - nach Inger Christensen - gibt es, doch nur als Untergrund" (S.8). Auf der Suche nach seiner Seele erkennt das lyrische Ann-Ich "Seele ist Besserwisserei ... Schluss mit dem müßig-mystischen Gelaber!" (S.63), möchte aber nicht ins allzu Alltägliche abgleiten: "Doch wenn ich lasch werde im Denken, so wie jetzt, / nutzt alle Jugend und Weiblichkeit nichts. / Während das breite Banale mir das Gehirn zerfetzt" (S.49). Ann Cotten spürt die "Notwendigkeit einer kritischen Sprache" (S.93); denn die "Giftigkeit des Normalen ist nicht zu unterschätzen" (S.94). Wie unter Schock schwankt dieses quasisexuelle Bedürfnis nach Weltgehalt (S.9: "Dichtung ... zu Sex ermuntert") zwischen der Kritik an realitätsfernen Dichtern im Elfenbeinturm (S.38: "ihre Süße ... kalte Füße") und der Selbstkritik: "ein jeder Vers schwillt an, da hohl, enthaltend zwar die ganze Welt, doch nicht verdoppelt, sondern wie außen, gänzlich dieselbe" (S.161) - und mündet einerseits in der Erkenntnis "Die Wirklichkeit ist blöd" (S.44), weshalb der "Realismus ... in den Irrsinn kippt" (S.44), aber andererseits auch im Eingeständnis, daß das "Internet der Dinge" (S.78) aufgrund der vielen Werbebanner hässlich sei. Obwohl sich das Internet außerdem als LSD-artiger "Zuckerschaum" (S.121+160) gegen die "Leere innen" (S.161) erweist, indem dort nur idealisierte Realität (S.126) feilgeboten wird, will die Autorin die virtuelle Ersatzwelt nicht den finalen Technokraten überlassen, sondern das Netz "ausmisten und besser verwenden" (S.121). Damit nimmt sie die Frage avantgardistisch vorweg, wie ein Digitalpakt didaktisch geistvoll statt sinnentleert funktionieren kann, ohne einer Schrauben-Religion zu huldigen. Trotzdem tauscht sie ihren eigenen "Großideenstrom", der die Herzen nicht mehr gewinnt (S.99), wie ein Moses auf dem Berg gegen Schrauben; denn: "Es ist der Weg der Schraube, den wir brauchen, / und nicht der Weg der Meditation." Die poetisch gekonnte Zeichnung auf Seite 100 zeigt dazu einen "Schraubentempel", der wie ein spiralförmiger Turm von Babel aussieht. Dort, visioniert die Dichterin, "ließe uns die Vertikale wie Rauch versuchen, / uns selbst verlierend gratis in das Nichts zu stoßen" (S.99, Satzbau angeglichen). Hat Ann Cotten nun also mehr als eine Schraube locker? Bereits auf Seite 62 schrieb die Autorin über das Nirvana wie eine postmoderne Verdrehung Schillers Ode an die Freude: "gen Himmel, wo in Funken ich ende und ihn begrüße, / den immateriellen Träger der Konstellationen: / das Nichts! In dem so viele helle Sterne wohnen". Doch eben das sei müßig-mystisches Gelaber, entgegnet ihr Goethe-ähnliches lyrisches Ich in faustischem Ton: "Das Weltgeheimnis ist gelüftet." (S.63) Doch die Autorin kann sich im gesamten Versepos nicht zwischen Mikroben und Metaphysik entscheiden, pendelt unaufhörlich zwischen schaumgeborener Aphrodite und schraubenverehrender Apokalypse hin und her, ohne einen gangbaren Mittelweg zu finden. In schierer Verzeiflung betet sie das Lexikon immer wieder herunter und fleht dabei, "der Mensch will funktionieren" (S.144) und dürfe seiner Melancholik nicht verfallen: "Sein Ahnen wird dann Mystik, seine Demut Dummheit" (S.151). Auf Seite 79 finde ich dann eine mögliche Antwort auf den Grund, warum ich das Buch überhaupt nochmal gründlich las: die Figur des "Pan Orama" als personifiziertes Internet kommt als Spion aus dem Kabel ("ruft es von im Kabel drin") und sagt: "Ich habe Klons gemacht und bin verrückt geworden. Zu künstlich. Zu gut." Auf Seite 113 wird seine Identität zudem beschrieben als: "hält sich an minimale Sprachwendungen, die durch perfektes Timing lustig sind" UND HAT EINEN SCHRAUBENZIEHER IN DER TASCHE! Das Wort "Kabel" wird darüber hinaus mehrere Male in diversen Variationen verwendet: Kabelnähte, Kabelende, "das" Kabel schlechthin (S.81) - ist Oskar Kabel etwa nur ein Pseudonym von Ann Cotten? Ihre eigene Satire? Dann wäre ihre Kritik an ihm bloß indirekte Eigenwerbung... Ihr Versepos "Verbannt!" ist jedenfalls ein originelles, vielleicht sogar genialisches Klagegebet gegen das "Koma der Welt" (S.54) und lässt sich für mich keiner Mikroszene des Lyrikbetriebs eindeutig zuordnen. Es ist alles andere als Gemüsedichtung und Schnöselliteratur, wenn auch nicht so progressiv wie beispielsweise Clemens Schittko. Cotten beweist einfach nur auf wunderbare Weise die viel zu seltene Möglichkeit, daß durchgeknallte Undergroundliteratur dank eines Großverlages leicht zu Mainstream werden kann. Hoffentlich lässt sie sich niemals vom biederen Establishment verbiegen, sondern bleibt ihrer eigenen schrägen Art treu!