Hartmut T. Reliwette


Durch den Kaktus gesprochen

 

Wenn Sprachwülste sich
der Notwendigkeit
verschließen


Dichterzähne in die
Selbstbeschäftigung
einschlagen


Genussgaumen
in Erwartungshaltung
kitzeln


Silben - gezählt und gewogen
dem Ohrenschmaus gefällig


mit dem Ave Maria
(in hoher Kopfstimme)
das Finale bejubeln


jeder Vierzeiler
um den Pulitzerpreis
buhlt


Kunst genießbar
nutzlose Ästhetik hofiert


die Propheten im Bundestag
die nächste Diätenerhöhung
weissagen


(und 1050 andere Ungereimtheiten)


wird sich
den Köpfen
das Denken verweigern


dem Denken die Köpfe


werde ich die Stacheln
an meinem Kaktus polieren

 


Drei Träume

 

Stillgeprägte schwarze Straße
neonleuchtend blankes Nass
tief getränkter Hoffnungsschimmer
sind des Menschen Aderlass
Dichtgestützte frohe Menge
sind in königlichem Blau
festgefahren und vergessen:
Kinder einer fetten Sau!
Machtgetrübte schwache Sinne
sind durch tristes Einerlei
neugesklavt und folgehandelnd
was Maschinen nützlich sei!
Fortlenkt der Maschinenknochen
Traumlieb aus des Herzens Glut
und schon wieder rauchen Trümmer
einer tollen Wahnsinnsbrut...

 


Drei Nüsse

 

Zeitsausewind, du übler Bursche, was fällt dir ein?
Fegst durch meine Räume zerrst an meinen Haaren
klapperst mit meinen Zähnen im Stundenglas der Bürger
Drei Nüsse lege ich Dir auf die Fensterbank
die magst du knacken!

 


Abendgesang

 

Rostzerfressene Giganten bezeugen Atlantis Untergang
Noch wanken vom Wahn zernagte Kulturen
im Dämmerlicht der Gegensätzlichkeiten
Farn bedeckt die Kadaver ferngelenkter Ideen
und die Philosophen stolpern über das Letzte Blatt
das von der schon kahlen Birke fällt

 



Psychikon I

 

Regen tropft, metallene Skulpturen blinken mattsilbern im Dämmerlicht
Gekreuzte Schwerter fallen ins Niemandsland
Was sinnvoll erschien, zerschellt schon im Aufbruch
So nehmen Poeten ihre Habe ins Grab und Leere ist Abschied!
Wenn Abendwolken wehen und Sturmvögel ziehen
Das Maß der Dinge kein löcheriges Sieb aber ein Fass ohne Boden!

 


Psychikon II

 

Als sie sich noch ein letztes Mal umwandten,
sahen sie, dass die weite Ebene
von der untergehenden Sonne
in purpurnes Licht verwandelt worden war...
in der Ferne zog die vermummte Schar nordwärts,
die unendliche Menschenreihe schien kaum in Bewegung
und zerfloss mit den Abendwolken am Horizont

 


Psychikon III

 

Und obschon sie in den Spiegel blickten, sahen sie sich nicht
und niemand bemerkte den Nebenstehenden
Das kam daher, dass sie unentwegt damit beschäftigt waren,
ihre Kleider zu ordnen und niemand bemerkte den Nebenstehenden
Während im Westen langsam die Sonne versank
erloschen die Spiegel und wurden zu blinden Fensterscheiben

 


 

Hartmut T. Reliwette, geb. 1943 in Berlin. Maler, Bildhauer, Performer, Autor. Auf dem künstlerischen Sektor seit 1969 präsent, damals noch mit der Gruppe ARASKADE 69, die aus Malern und Autoren bestand. Außer mir ist Frau Dr. Prehm, Scottish Lady of Camster, Autorin und Zeichnerin, das letzte lebende Mitglied der Gruppe. Seit dieser Zeit wurden bis heute ca. 70 Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen oder Performances im In- und Ausland realisiert. Erste literarische Publikationen im Jahre 1971, hauptsächlich Gedichte und Prosatexte, die in deutschsprachigen Anthologien publiziert wurden oder im Eigenverlag sowie im Magazin "Die Brücke". Im selben Jahr entwickelte sich eine Freundschaft zu Professor Joseph Beuys, der an der Kunstakademie in Düsseldorf einen Lehrstuhl hatte. Außerdem bestand eine tiefergehende Freundschaft zu Peter Coryllis, einem Schriftsteller, der den Kreis der Freunde leitete, eine lose Vereinigung von hauptsächlich Autoren, aber auch Kunstschaffenden. (Einst hatte der Lambarene-Arzt Albert Schweitzer diesen Freundeskreis gegründet). 1981 Einrichtung einer Zweigstelle der FIU (Free International University for Kreativity and Interdisziplinary Research) bei der Volkshochschule Essen-Mitte. (Die FIU war zunächst ein künstlerisches Projekt von Joseph Beuys und einem seiner Meisterschüler, Johannes Stüttgen). Nach einer Aufführung der Fluxuszone Niederrhein wurde vom damaligen Leiter der VHS, Lübben, angeordnet, dass weitere Auftritte der FIU bei der VHS Essen unerwünscht seien. Demzufolge wurde das Reliwette-Museum 1984 in Ostfriesland errichtet und somit gegründet, um ein eigenes Podium zu realisieren. Zur Eröffnung wurde eine mehrteilige Performance initiiert, deren Haupteil mit dem Titel "His masters Voice" in das Zerschießen einer Pyramide aus Fernsehgeräten mittels einer großkalibrigen Vorderladepistole mündete. 1976 erfolgte die Gründung der literarischen Gefangenenzeitung DIABOLO mit einem Insassen-Redaktionsteam der Sozialtherapeutischen Anstalt Gelsenkirchen. In der Zeit von 1979 bis 1986 entstanden 2 Filme im S8 Format: "Psychodelic memories" und "Abbruch". 1987 erfolgte das Pflanzen eines Labyrinthes aus Berberitzensträuchern auf einer Fläche von 2500 Quadratmetern. Es handelt sich hierbei um den "Joseph-Beuys-Gedächtnisgarten". In diese Zeit fällt der erste Kontakt zu Karl-Heinz Schreiber, einem literarischen "Urgestein" aus Unterfranken. Aus diesem Kontakt entwickelte sich im Laufe der Jahre eine tiefgehende Freundschaft. K.H.S war nicht nur Rezensent zeitgenössischer Literatur, sondern auch Herausgeber einer Literaturzeitschrift, Romanverfasser, Dichter und Lyrocker. "Charly" Schreiber verstarb viel zu früh im Jahre 2014. Sowohl die Freundschaft zu Beuys als auch zu Karl-Heinz Schreiber haben meinen literarischen Duktus stark beeinflusst. Noch kurz vor seinem Ableben brachte er den Gedichtband "Durch den Kaktus gesprochen" heraus, der meine wichtigsten Gedichttexte enthält. Das FORUM im Inneren wurde 2002 mit einem Festival der Poesie in Betrieb genommen. Auch hierbei hinterließ K.-H.Schreiber seine Handschrift. Im Jahre 2017 besteht das Labyrinth als Langzeit-Kunstwerk 30 Jahre. Es wird ab dem Sommer 2017 nicht mehr geschnitten und somit der Natur überlassen. Die Bühne samt Bestuhlung wird somit in einen "Dornröschen-Schlaf" versetzt und sich selbst überlassen als Heimat für wild lebende Tiere aller Art.


Blog @ www.blog.reliwette.de
Homepage @ www.reliwette.de

 



 

Gastautoren bei Reliwette: www.reliwette.de/gautor.htm

 

Alle bisherigen Reliwette-Gastautoren (Stand: August 2021):

 

Arne-Wigand Baganz
Wilfried Bieneck
Annika Blanke
Werner K. Bliß
dtp (der traurige Poet)
Kai Engelke
Anja Es
Ronald Klein
Heinrich Korella
Michael Mäde
Hartmuth Malorny
Jan Matt
Mariella Mehr
Nataly Murray
Raimund Samson
Cordula Scheel
Manfred C. Schmidt
Karl-Heinz Schreiber
Iris Schröder
Dr. Jürgen Schwalm
Claus Schwarz
Brigitte Tholen
HEL ToussainT
Tom de Toys
Thomas Trey
Gerda Ulpts