Kersten Flenter

Depressionen, Glück und Langweile

(Ausschnitt aus: „Über das Weinen in morgendlichen Fernzügen“ aus dem Band „Peinliche Gewinner“, Blaulicht Verlag 2009)

 

Eines Tages passierte etwas Merkwürdiges – ich fand meine Depression nicht mehr wieder. Musste sie eigentlich am Abend zuvor an die Garderobe gehängt haben, jedenfalls ist das die wahrscheinlichste Handlung, die ich beim Heimkommen vollzogen haben konnte. Und nun fand ich sie nicht mehr. Ich suchte die üblichen Stellen ab, schaute in den Schubläden und unter dem Bett nach, ging hinunter ins Lieblingscafé,  rief meine verflossene Liebe an, aber die Depression war nirgends zu finden.
In den nächsten Tagen machte ich Aushänge in Kneipen, Cafés und an Laternenpfählen, und nach gut einer Woche meldete sich eine alte Frau, die sagte, sie hätte etwas gesehen, auf das die Beschreibung meiner Depression passen würde, sie sah es in der Innenstadt eine viel befahrene Kreuzung überqueren. „Das könnte passen“, sagte ich, „das sähe meiner Depression ähnlich, leichtsinnig wie sie ist.“
Zwar fragte ich mich, wie sie aus Linden herausgekommen war und warum sie sich ein anderes Betätigungsfeld gesucht hatte, aber es konnte ja auch sein, dass die alte Frau sich getäuscht hatte, Depressionen sehen sich oft täuschend ähnlich. Meine ist allerdings etwas auffällig, sie provoziert oftmals Passanten mit unvermittelten Tics. Es war immer schwierig gewesen, meine Depression mit all ihren Macken zu akzeptieren.

Die Monate vergingen und allmählich war mein Alltag nicht mehr niederschmetternd. Ich stand morgens gut gelaunt auf, trank einen Milchkaffee am geöffneten Fenster und sah mir den Sonnenaufgang an, ging 5 Kilometer joggen, duschte, trank einen weiteren Milchkaffee bei Rossi während ich die Zeitung las und begann dann meinen Arbeitstag mit dem, was ich tun wollte. Es war merkwürdig, schräg, schwer zu fassen. Eines Tages traf ich einen alten Freund auf der Straße, und seine Frage, wie es mir ginge, beantworte ich ernsthaft mit: „Gut!“ Und das stimmte. Nicht lange zuvor war ich noch mit jeder kleinen alltäglichen Handlung völlig überfordert gewesen. Der Gang zur Toilette verlangte ein Höchstmaß an Überwindung, die Schnürsenkel zu binden stellte eine kaum zu bewältigende Anstrengung dar, ganz zu schweigen von der Unfähigkeit, Post zu öffnen oder einem Menschen sprechend in die Augen zu blicken. Und nun tat ich offensichtlich merkwürdige Sachen – beschwerte mich bei Dienstleistern über schlechten Kundendienst, ließ mich beim Autoverkauf von dem Jungtürken nicht über den Tisch ziehen, konnte alle monatlichen Rechnungen bezahlen, rief Freunde an und interessierte mich tatsächlich für ihre Belange, arbeitete den Aktenstapel im Büro ab, bekam die Buchführung auf den aktuellen Stand, war freundlich zur Kassiererin im Supermarkt.  Meine Verwandten machten sich sorgen um mich – „Du meldest dich in letzter Zeit so oft, was ist los?“ Selbst der Biergartenwirt machte sich Sorgen. „Letztens mal wieder was von deiner Depression gehört?“ „Nee, Ömmes, hat sich Wochen lang nicht mehr gemeldet.“

Der Frühling ging in den Sommer über, vom Fluss herüber drangen der Duft von Grillgut und die Rhythmen trotzenden Trommelsalven der Outdoorkiffer. Ich saß, entgegen meiner neuen Gewohnheiten, abends allein auf dem Balkon bei einem kühlen Glas Weißwein und der neuen Ausgabe von Fit for fun, als das Telefon klingelte. „Ich bin’s“, sagte das Telefon. „Ach du“, seufzte ich. „Wollte nur mal hören, wie es dir geht.“ „Alles gut ohne dich“, sagte ich. Meine Depression lachte. „Glaub ich dir nicht. Du kannst doch gar nicht ohne mich.“ „Blödsinn“, lachte ich, „umgekehrt wird eine Sandale draus – du kannst anscheinend nicht ohne mich. Schließlich bist du kommentarlos abgehauen, ohne dich zu verabschieden, und hast dich monatelang nicht gemeldet.“ „Brauchte mal Urlaub“, sagte meine Depression. „Urlaub!“, sagte ich, „Bisschen Erholung von mir, oder wie? Vergiss es. Glaub ja nicht, dass ich dich zurück nehme.“ „Komm schon“, sagte die Depression, „du bist abhängig von mir. Alles, was an dir funktioniert ist Leiden.“
Ich legte auf. Leck mich, dachte ich. Ich war selbstbewusst genug, diese stalkende Depression zu ignorieren. Und weil ich gelernt hatte, mich für kleine Erfolge im Alltag zu belohnen, zog ich mir die neuen Schnürschuhe an und ging hinaus. Ich kam an einer Eisdiele vorbei. Die als Italienerin getarnte Bulgarin hinter dem Tresen beobachte mich eine Zeitlang, bis sie mich ansprach. „Was möchten Sie bitte?“ „7 Kugeln Vanille in der Waffel und …“ Ich hielt inne. Das hatte ich hinter mir.  
Das Rieseneis ging mit mir die Straße entlang, als plötzlich mein Mobiltelefon anschlug. Ich vernahm die fröhliche Melodie von Tony Marshalls Hit Heute hauen wir auf die Pauke, gegen die ich meinen alten Klingelton, die Kindertotenlieder von Mahler, eingetauscht hatte.
Die Rufnummer war unterdrückt. „Ja?!“, raunzte ich, während mir ein Klumpen Eis auf die Jeans fiel. Es sah ganz hervorragend aus, ich sah das positiv.  „Ich bin`s“, sagte das Telefon mit quäkiger Stimme. „Das hab ich heute schon mal gehört“, erklärte ich, „was willst du?“ „Ich bin dein Glück“, sagte die Stimme. „Wo hast`n meine Nummer her?“, fragte ich. „Hat mir deine Depression gegeben.“ „Na toll. Und woher weißt du, dass ich grad hier bin?“ Der alte Kalauer. „Weil ich direkt vor dir stehe“, sagte das Glück. Aha. Okay, da stand also mein Glück. Kam mir sehr recht. „Und jetzt?“, wollte das Glück wissen. „Haste Kippen bei?“, fragte ich. Das Glück schwenkte eine Packung Lucky Strikes. „Dann lass uns erstmal eine rauchen.“ Wir rauchten erstmal eine. „Und sonst?“, fragte ich nach ein paar Stunden, in denen das Glück schweigend neben mir gesessen hatte. „Naja, muss ja“, sagte das Glück. „Klar“, sagte ich. „Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?“, fragte das Glück, und ich sagte, wenn`s der Wahrheitsfindung dient … Nach einer Woche lag das Glück immer noch in meinem Bett, aber mir war langweilig. Ich begann, meine Depression zu verfluchen, weil sie mir das Glück auf den Hals gehetzt hatte. Immerhin konnte ich das Glück überreden, mit mir zu Ömmes in den Biergarten zu kommen. Dort hatten wir einen handfesten Streit, und zu später Stunde gab ich dem Glück einen Tritt in den Hintern und schickte es weg.
„Was war das denn?“, wunderte sich Ömmes.
„Das war das Glück“, sagte ich.
„Hat vergessen zu bezahlen“, murrte er.
„Es kennt den Preis nicht“, sagte ich.
„Du hast schon komische Gefährten“, überlegte Ömmes laut, als sich eine Frau auf dem Barhocker neben mir niederließ. Sie zwinkerte mir zu. „Und wer bist du?“, stöhnte ich. „Deine Langeweile“, sagte sie. Ich erhob mich, aber bevor ich ging, gab ich ihr vorsichtshalber meine Visitenkarte.