Rezensionen über TOM DE TOYS

Mehr über den Autor


Boris Kerenski, 8.1.2020

 

»Direkte Dichtung« heißt das neueste Werk von Tom de Toys – einem ungemein produktiven Kunstschaffenden, der seit über 30 Jahren publiziert. Angesichts des Umfangs seines Oeuvres – es gibt ca. 200 veröffentlichte Bücher und Hefte – ist es verständlicherweise nicht einfach, das bisher Entstandene zu überblicken. Ein Umstand, der sicherlich auch den Autor motivierte »Direkte Dichtung« aufzulegen, handelt es sich doch dabei um einen Übersichtsband, der in vier Kapiteln exemplarische Gedichte einzelner Arbeitsreihen abdruckt.

 

Im kurzen ersten Kapitel »Ausnahme-Gedichte« finden sich zum Beispiel das älteste – »Mut« (1989) – und auch das jüngste Gedicht – »Quizfrage« (2019). Letzteres ist eine rasante Auseinandersetzung mit der Rolle des Dichters und was ein Gedicht konkret zu leisten vermag oder auch nicht. »Radikale Slampoesie« – Kapitel zwei – vereinigt Beiträge, die nicht zwangsläufig für die Bühne geschrieben wurden, die man sich dort aber bestens vorstellen kann. Der Text »Über-B-Wertung (Prädikat: “Slamtauglich“)« trägt ja bereits im Titel die ironische Anspielung auf ein literarisches Veranstaltungsformat im Nachtleben. Doch beim Lesen wird klar, dass De Toys diesen Text nicht verfasst hat, um als strahlender Poetry-Sieger gefeiert zu werden, den die Mehrheit nett, witzig oder unterhaltsam finden soll. Vielmehr handelt es sich um das Bekenntnis eines Dichters zur Sprache und der ständig fordernden, teils quälenden Auseinandersetzung mit ihr. De Toys ist ein Bühnenvulkan, das illustriert ein Foto von 1994, das ihn nackt zeigt bei der Performance von »Zieht euer Gehirn aus!!!«. Auch im noch frischen Jahr 2020 wäre dies eine Provokation an einem harmlosen Slam-Abend.

 

»Der Ja(hrhundert)-Zyklus« bildet das umfangreiche Kapitel drei und »Die Lochgebete«, die dank ihrer Nummerierung dem Leser einen retrospektiven Charakter vermitteln, sind in Kapitel vier zusammengefasst. Diese Gedichte besitzen teilweise eine spirituelle/existentialistische Note, thematisieren sie den Urknall, das Universum und den äußerst nichtigen Menschen darin. So heißt es in »Überevent«: »das universum / IST ein superhirn / die galaxien sind / synapsen in der leere / zwischen den planeten / nervenbahnen und / die erdregion: / als sitz der seele!«

 

Der Band besitzt eine ansprechende Grafik und die Gedichte sind großzügig gesetzt. Aufgelockert wird die Sammlung durch zahlreiche Fotos (in Farbe/SW) von De Toys – ein echtes Multitalent –, die darüber hinaus Bezüge zu den Gedichten herstellen: »Fotomie« meets »Poemie«.

 

»Direkte Dichtung« ist das, was man von erfolgreichen Bands kennt, ein Best-off-Album. »Direkte Dichtung« ist eine Kompilation, die so ein Versprechen einhält.

 


Melanie Matzies

Rezension aus Deutschland vom 2. September 2016

 

Tom de Toys' Liebesgedichte sind Balsam für die Seele. Schon beim Lesen durchströmt einen die Ruhe, Liebe und Kraft, die er mit Hilfe seiner klaren, präzisen und treffsicheren Wortwahl vermitteln kann wie kaum ein anderer lebender Lyriker. Ich bin begeistert!


Melanie Matzies

Rezension aus Deutschland vom 2. September 2016

 

Ebenso wie die "Ziele der Zärtlichkeit" finden sich hier Gedichte vom Feinsten. Hier versteht es ein Wortakrobat, mit Gefühlen und Gedanken derart zu jonglieren, dass jedes Poem einen bleibenden Eindruck mitten im Herzen hinterlässt und zum Nachdenken anregt. Wer geistreiche, emotionsstarke Lyrik liebt ist hier genau richtig.

 


Dichter Thomas Holzapfel

Klare Worte statt großer Metaphern

Von Günter Vogel (Jülicher Nachrichten)

 

Jülich / Thomas Holzapfel hat sich der schnörkellosen Poesie verschrieben. Seine Werke soll man nicht interpretieren müssen, weil man sie sofort versteht, das ist dem aus Jülich stammenden Dichter wichtig. Auch Ereignisse aus seiner Heimat verarbeitet er in diesem Stil.

 

Das Jülicher Nordviertel, eine Bäckerei mit angeschlossenem kleinen Café. Am hinteren Tisch sitzen sie vor belegten Brötchen und Kaffee: Siegfried Sühd, Herold Himmelfahrt, Bruno Brachland, Tomithy Holeapple und Tom de Toys. Tom de wer?? Alle fünf sind nur einer, nämlich bürgerlich Thomas Holzapfel, früher ein Junge aus dem Nordviertel, heute ein Künstler, ausgestattet aber nicht mit einer multiplen Persönlichkeit, sondern mit verschiedenen Künstler-Alias-Namen.

 

„Das hat mit meiner Kunst zu tun“, erklärt er, „und das ist die Lyrik. Sie sind ein Strukturelement, wie der Titel eines Gedichtes auch.“ Seit seiner Schulzeit am Gymnasium Zitadelle beschäftigt er sich mit Sprache, und hier vor allem mit Gedichten. „Lyrik ist eine Nische im deutschen Literaturbetrieb, und meine Lyrik ist eine Nische in der Nische.“ Denn sie ist besonders. Auf den ersten Blick leicht verwirrend, vielleicht sogar befremdend für diejenigen, die mit einem Gedicht Reime erwarten, Metaphern und genau die Frage, die seit Schulzeiten jeder kennt: Was will uns der Dichter damit sagen?

 

Mitten ins Herz

 

Deshalb ist der zweite Blick auf seine Gedichte erhellend: „Die meiste Poesie war mir zu kryptisch“, erklärt de Toys, „ich sehnte mich nach einer klaren, direkten Sprache, die mitten ins Herz trifft. Und das fand ich unter den klassischen Lyrikern nicht.“ Also begann er selbst zu schreiben, arbeitete gegen diesen, wie er es nennt „germanistischen Etikettenschwindel“ aus Schwulst, Schwurbel und der vieldeutigen Bedeutungslosigkeit.

 

Seit seinen Anfängen sind eine ganze Reihe von Lyrikbänden erschienen. Seine neue Anthologie hat er mitgebracht: „Fraglos leben“ heißt sie und enthält „55 Großartige Gedichte“. Das „Großartige“ sei keine Überheblichkeit, sondern eine ironische Replik* an einen Rezensenten, der ein Jahr zuvor eine andere Veröffentlichung total verrissen hatte. „Dieser kleine Seitenhieb musste sein“, schmunzelt Tom de Toys.

 

Er ringe mit der Sprache, um sein Ziel, billige Metaphysik und Metaphernwahn in der Lyrik außen vor zu lassen und stattdessen die Sicht auf die Außenwelt und die eigene Gefühlswelt schnörkellos auf den Punkt zu bringen. „Gedichte, die keiner versteht, sollte man eigentlich nur in der Pubertät schreiben, und zwar, weil man sich in dieser Phase selbst nicht versteht.“ Das ist eine glasklare Position, und er setzt noch einen drauf: „Ich werde meinen klaren, geheimnislosen Stil niemals ändern, nur um besser abzuschneiden im offiziellen Lyrikbetrieb.“

 

Natürlich könne er von seiner Kunst nicht leben, aber darum ginge es ihm ja auch nicht. Sie soll zum Nachdenken anregen, ohne lang und breit und möglicherweise auch falsch interpretiert zu werden.

 

„Fraglos leben“ enthält Kurzgedichte, Alltagsgedichte, Liebesgedichte, Metagedichte und ein echtes Quantengedicht. Ein was? Im Café schaut Tom de Toys seinen Vater an, Christian Holzapfel, seinerzeit im Forschungszentrum als theoretischer Physiker tätig. „Ja, mein Vater hat mich dazu inspiriert. Die Wissenschaft sucht nach der Weltformel, ich suchte nach dem absolut nicht interpretierbaren Gedicht, ähnlich wie Kasimir Malewitsch dies in der Malerei entwickelt hat, zum Beispiel mit seinem Schwarzen Quadrat.“

 

Das sei vollkommene Abstraktion, und fügt hinzu, diese in die Lyrik übertragen zu haben. Eines davon ist im neuen Gedichtband zu sehen, und es ist nicht einfach lesbar. Die anderen aber durchaus. Eines davon ist hier in Jülich entstanden, als im vorigen Jahr die Herzogstadt vom Brand in der Zuckerfabrik aufgeschreckt wurde und Tom de Toys auch...

 


Bodenlos? Verwurzelt? Wie ein Stern?

Versuch einer Rezension der Neuropoesie

Von Pier Zellin (LDL-Pressesprecher)

 

Tom de Toys ist kein intellektualer Metaphoriker, wie sie in der zeitgenössischen Lyrikszene häufig anzutreffen sind. Er meint alles wortwörtlich so, wie er es schreibt. Und da seine Gedichte ins Mystische hineinreichen, erweist sich sein Ansatz der sogenannten "Direkten Dichtung" als ein Wagnis, das er aber schon 1993 im Gedicht "MYSTISCHES WAGNIS" leichtfüßig bewältigt, wenn es da heißt: "zermalmt / im weißen loch / der seele und ... die erdenzeit beginnt / zu leuchten". Was da im Werkquerschnitt mit 90 ausgewählten Gedichten zermalmt wird, ist die Illusion des Ich, von der Alan Watts einmal sprach. Zwischen dem Auftaktgedicht "KONTAKT" von 1989 mit den Zeilen "zwischen zwei körnern / staub / schritte im meer" und der Variation desselben Themas in den Zeilen "tiefgang findet sich nicht / in den dingen / sondern zwischen ihnen" im finalen Gedicht "WEXELWIRKUNG" von 2015 finden wir eine klare, unverschnörkelt spirituelle Sprache für esoterische Bewusstseinszustände, die das Paradoxe nondual überwinden. Auf den Punkt gebracht ist das in "NULLPUNKTEN" von 2011 mit den Zeilen "ist das nicht der wahnsinn / ALLES IST DA / und wir sind mittendrin" oder auch schon 2005 in der "ÜBERGRÖßE" (siehe Advaita-Ausgabe des Magazins "connection spirit"), wenn es heißt: "du mußt nicht glauben / um die welt in ihrer vollen größe / zu erkennen du / mußt nicht denken und / noch nicht einmal verstehen / du darfst einfach / so erleuchtet sein". Dieser Gedichtband ist ein ekstatischer Bewusstseinsritt von der ersten bis zur letzten Zeile. Manche Stellen erinnern mich an Hans Arp, andere an Ernst Meister. Und durch alle Gedichte weht der Wind des "Lochismus", der mir mit Zen und Taoismus verwandt zu sein scheint. De Toys hat seinen ganz eigenen und eigenwilligen Stil, sein Ton trifft direkt in die Seele, ohne die Umwege einer blumigen Bildersprache zu bemühen. Seine Poesie ist psychologisch und transpersonal. Nach der Lektüre ist mir das Gedicht "GOTTLOSES GEBET" so klar, dass ich lachen muss: "es gibt kein nirgendwo / zum flüchten der / bezugspunkt liegt / im absoluten / jetzt". Mehr lässt sich kaum dazu sagen, ich fühle mich selber jetzt "BODENLOS VERWURZELT WIE EIN STERN". Ausnahmelyrik!


Grundlose Inwesenheit: 22 Ekstatische Essays 1992-2015

Taschenbuch – 24. Juli 2015 von Tom de Toys

 

Alan Grey

Rezension aus Deutschland vom 30. November 2015

 

Das Buch macht seinem Namen wirklich alle Ehre, es lebt von der Neuschöpfung jedes Wortes, eines Seins ohne Sein. So wird es vom Autor in mannigfacher Weise durch immer neue Wortschöpfungen ausgedrückt. Sich auf das Buch, auf jede einzelne Zeile und jeden neuen, weil unbekannten, Begriff einzulassen ist sicher die unausgesprochene Forderung des Autors. Dieser legt mit seinen ekstatischen Texten Zeugnis ab über eine tiefe Seinserfahrung, die jeden alleine durch Lesen mit in den Bann reißt. Anschließend ist man entweder ein Stück weit unnötigen Ballast losgeworden (er wird einem förmlich genommen), oder man ist völlig verwirrt, weil der Text - sein gesamtes Potpourri der Wörter - einem den Verstand raubt und einem jegliche grammatikalische Regel genommen und ersatzlos gegen - den Satzbau zuwiderhandelnde - Cut-ups ausgetauscht wird. - Cut-ups wurden 1959 von Brion Gysin geschaffen und in der Beat Generation von Autoren, wie William S. Borroughs bevorzugt und bekannt gemacht. Dabei werden Textteile, Wörter oder Sätze unwillkürlich zusammengesetzt, aneinander gereiht und lassen dabei eigene magische Fanatsien und Bilder entstehen.

 

Grundlos? Inwesend? Und dann?

Versuch einer Rezension des Neuroatheismus

Von Pier Zellin (LDL-Pressesprecher)

 

Der Begriff "Inwesenheit" ist mir bereits von seinem gleichnamigen Gedichtband geläufig. Dort heißt es im Untertitel: Perinzendenz statt Transzendenz. Dieses Motto lässt sich auch auf das neue Buch "GRUNDLOSE INWESENHEIT" anwenden, in dem sich der Lyriker als delirischer Essayist erweist. Hier wird jede Form von Transzendenz als esoterisches Hirngespinst zum Platzen gebracht! In 22 "ekstatischen Essays" aus dem Zeitraum 1992 bis heute umkreist Tom de Toys in oftmals eigenwilliger Orthografie das nonduale Zentrum des Bewusstseins und referiert über soziologische und kosmologische Problemstellungen, die sich quasi automatisch aus seiner radikalmystischen Sicht der Dinge ergeben. Der Glaube an metaphysische Floskeln wie "Gott" und die "Liebe" wird hier psychologisch sabotiert, um ein bedingungsloses Mitgefühl für die totalreale Welt in sich zu erwecken. So heißt es 2012 in dem Text "JETZTSEITS STATT JENSEITS":

 

>>kein mensch hat jemals ein paradies oder ein nirwana gesehen, es sind bloß massenpsychistische konstruktionen der transzendentalen fiktionalität. ab jetzt zählt nur noch, was sinnlich konkret fühlbar und darum messbar ist: SINN wird nicht mehr im berüchtigten "jenseits" gesucht, LIEBE passiert als geteiltes ereignis anstatt als metaphysische fake-entität, SEELE, SELBST, GOTT und die LEERE werden ersatzlos aus allen fachlexika gestrichen.<<

 

Stattdessen erklärt De Toys die Fähigkeit des Menschen zur Rückkehr in eine projektionsfreie Selbstwahrnehmung, die den ideologielosen Blick auf die Wirklichkeit als "absolut wirkliche" ermöglicht. Der Autor läd dazu ein, ganz in der Gegenwart anzukommen, um die reale Welt als radikal "wahr" zu empfinden, ohne doppelten Boden, ja, ohne Boden überhaupt: grundlos. Diese Grundlosigkeit meint sowohl den Selbstzweck alles Seienden, ohne eine "letzte" Begründung zu benötigen, als auch die ontologische Bodenlosigkeit der Mystik. So heißt es 2015 in dem finalen Text "NEUROSMOG? DER ALLTAG ALS TAG IM ALL!":

 

>>Wer heute noch immer an Gott glaubt, hat die unendliche Leere noch nicht gespürt. Und wer nach einer mystischen Erfahrung weiterhin von Gott redet, der ist in sein kleines Ich zurückgefallen, weil er das Loch nicht verkraftet hat. Wenn du deinen Geist einerseits leer machst und dann wieder mit Neurosmog anfüllst, wirst du zum Esoteriker und kannst die diplomatische Laufbahn eines Gurus einschlagen. Als Heimkehrer ins Ich kannst du das Loch und die Leere vermarkten, als seien das Dinge, die man konsumieren kann. Aber ein Schüler der Leere merkt schnell, daß ihm das Loch zwischen den Fingern zerrinnt. Es ist wie Wasser - es plätschert dahin, ohne sich greifen zu lassen! Es ist, als ob du selber aus Wasser bestündest und durch dich selbst hindurch greifst. Dein Ich ist in Wirklichkeit das gesamte Zerfließen deiner Anwesenheit.<<

 

Mit diesen "neuroatheistischen" Statements über das angebliche Loch als eigentliche Mitte des Seins (und damit auch des Bewusstseins) schließt sich der Bogen zum Anfang des Buches, das mit dem Essay "LOCHISMUß" von 1992 beginnt. Hier heißt es bereits:

 

>>Deine nackte Anwesenheit west grundlos in sich selbst als Teil der Welt. / Keine Verwechslung mehr: Solange ich alles mögliche (und sei es noch so inneres) DU bin, bin ich nicht ICH. Erst das Ich, das ich nicht zum Gegenstand (meiner Betrachtung eines Du) machen kann, ist mein Zuhause. EIN HAUSLOSES ZUHAUSE. Das ewige DU OHNE DU, das ich bin ohne Ich, weil letztlich alles in der Verlorenheit vereinigt und identitätslos "da" ist.<<

 

Man spürt, wie sehr der Autor schon damals um Worte ringt, die das Unsagbare benennen sollen. Es ist wohl das Schicksal eines Mystikers, ganz gleich, ob er die Lyrik oder die Prosa als Medium wählt: Er bleibt der Sprache skeptisch gegenüber und versucht, Lügen in den Begrifflichkeiten zu enttarnen. Ziel dieser Essays ist immer wieder die Überwindung des symbolischen Denkens hin zu einem präsentischen Gespür für die Welt. Stellvertretend für viele andere Passagen im Buch heißt es 2015 in dem Text "OBJEKTFREIE ZONE":

 

>>Jede Sache wird zu ihrer eigenen innersten Sachlichkeit. Alles ist endlich ganz da. In sich. Als Bestandteil des Ganzen. Das Sein passiert endlich jetzt. In der Gegenwart. In sich selbst ruhend. Ganz anwesend. Grundlos. Inwesend.<<

 

Man meint, derlei spirituelle Phrasen schon oft genug gehört zu haben, doch ist dieses Buch eben nicht das Werk eines Esoterikers, sondern eines gesellschaftskritischen Freigeistes, der etwas schafft, was ich bislang in keinem Lebensratgeber fand: mit einem einzigen Neologismus sämtliche Ideologien ad absurdum zu führen und mit diesem schlichten Wort "Inwesenheit" unsere vielleicht verheerendste Volkskrankheit, die Abwesenheit (das Leben in symbolischen Illusionen), an der Wurzel zu packen. Für mich gilt dieses Buch heute schon als Standardwerk der Bewusstseinserweiterung. Ich bin gespannt, ob sich der Neuroatheismus des Autors in einer neuen Generation bemerkbar machen wird, die nicht mehr die meiste Zeit ihres Lebens damit verbringt, auf das Display ihres Smartphones zu starren. Die Sehnsucht nach einem anderen Umgangston unter Menschen aus dem Geiste der inneren Freiheit zeigt sich besonders in einer Passage des Textes "SPIRITUELLE DEMENZ" von 2014:

 

>>Ich vermisse die menschen, deren subtile seelen nicht vom gemurmel der religionen absorbiert sind. Die menschen, deren privat subversive sehnsucht nicht von den angeboten der unterhaltungsindustrie assimiliert ist. Ja, jene, die sich nicht mit dem produzieren und konsumieren zufrieden geben sondern die globale zwanghaftigkeit überwinden und geistig im niemandsland des boykotts ihrer herzen auftauchen. Das niemandsland der verweigerer und versager. Der spirituellen anarchisten. Der menschen, die nicht mehr falsch spielen wollen. Die nicht mehr die kostbare lebenszeit mit den modernen beschäftigungstherapien verschwenden wollen. Die innehalten und stehenbleiben. Die sich ihre augen ausreiben und wundern, warum dieser quatsch immer weiter und weiter läuft wie das debile programm auf allen kanälen im fernsehen.<<

 

So verbindet das Buch "GRUNDLOSE INWESENHEIT" von Tom de Toys Spiritualität mit Gesellschaftskritik, ohne sich auf eine neue "tröstende" Ideologie zu stützen. Ist die Zeit reif für eine derart gnadenlose geistige Freiheit? Man möchte es heutzutage vorallem Politikern wünschen, um mehr Mitgefühl für die Nöte der Menschen zu zeigen. Wer ganz "grundlos" im Hier und Jetzt ankommt, verschanzt sich nicht länger hinter Ausreden und Notlügen. Inwesend sein, bedeutet zu kommunizieren. Bedeutet in totalem Kontakt zu stehen anstatt sich im unekstatischen Ego einzukapseln. Eine große Herausforderung für den heutigen Mensch, der noch nicht einmal bemerkt, wie abwesend und abgelenkt er eigentlich ist. Immun gegen lebensphilosophische Grübeleien. Perinzendenz statt Transzendenz? Erstmal eine neue App installieren und Pizza statt Perinzendenz bestellen...

 


Rezensionen von TOM DE TOYS


Frag den Moment: Gedichte (PRO LYRICA Grundversorgung / Gedichte)

Gebundene Ausgabe – 30. März 2019 von Martina Caluori

 

WELTSCHMERZ EINER GEDANKENNÄRRIN

Rezension aus Deutschland vom 1. März 2020

 

Als säße ich einem fremden Mensch gegenüber und hörte ihm einfach zu, ohne einen bestimmten Gedankengang zu erwarten - so lese ich den Gedichtband "Frag den Moment" (in zwei Auflagen von bislang nur insgesamt 200 Exemplaren im Verlag PROLYRICA) von der jungen Schweizerin Martina Caluori (aus derselben Generation wie Tanja 'Lulu' Play Nerd!) beim ersten Durchlauf: unvoreingenommen, bereit für ein lyrisches Neuland und neugierig darauf, was mir eine 1985 geborene studierte Filmwissenschaftlerin zu erzählen hat, und vorallem: wie? Nach einigen "szenischen" Gedankensplittern, die wie Blitzlichter aus dem "braunen Nichts" (Seite 30) ihrer Gefühlswelt auftauchen, lande ich auf Seite 41 bei einem genialen Ultrakurzgedicht ("Wüstes Leben..."), das so plötzlich wie eine Drohnenbombe mit zugleich zynischer und doch stoischer Kraft einen Krater in meiner Wahrnehmung aufreißt, mich wachrüttelt aus dieser Trance, die beim Lesen ihrer melancholischen, bitteren, abgeklärten Andeutungen vorher entstand: jetzt ist die Brutalität der politischen Wirklichkeit ganz da! Geschickt eingefädelt, indem sie sich zunächst an persönlichen (biografisch wirkenden) Erlebnissen abarbeitet, die um die Themen Liebe, Begegnung und Tod kreisen, dann zu psychophilosophischen Interpretationen der Postmoderne übergeht, um dann in der gesellschaftlichen Reality-Soap anzukommen, die so unerträglich auf der Seele lastet (Seite 29: "Das Gewicht / der Gedanken / von meinem Rücken / unmöglich / abzuschütteln."), daß es einer übermenschlichen Selbsttranszendenz bedarf, die sich danach im Gedicht "Fortschritt" (Seite 43) wie ein nietzscheanischer Zarathustra entfaltet: "Die Gipfel getaucht in Licht / Zu meinen Füssen / das Geröll der Wahrheit." Ab hier entwickelt die Dichterin eine Fähigkeit, sogar ihre eigene Heimat radikal zu kritisieren: die "helvetische Doppelmoral" (Seite 47) der schweizerischen Flüchtlingspolitik lässt das lyrische Ich allmählich in stiller Trauer verstummen, der gesamte Weltschmerz gleicht bald schon einer Urne voller "apathischer Asche" (Seite 50), die als toter Ehrengast des Lebens zum Zaungast einer selbstverordneten Verwandlung wird - die Dichterin empfiehlt dem Leser schlußendlich, in ein neues, noch leeres Gedankenhaus umzuziehen (Seite 52). Sie wirkt selber zwar besorgt, aber dazu bereit. Dieser gesamte Gedichtband von 2019 scheint mir beim nochmaligen Schnelldurchlauf vom zwiefachen Abschied zu sprechen, einerseits dem Loslassen von traumatischen Emotionen (Tod), andererseits aber auch dem Überwinden des inneren Exils (Auferstehung). Ich durchlaufe als Leser eine Art psychotherapeutischen Reifungsprozess in poetischer Zeitraffer einer "Gedankenspirale" (Seite 28) mit dramaturgischem Höhepunkt beim Sonnenaufgang auf der Bergspitze und offenem Ende, das dem "Käfig des Geistes" (Seite 3) eine neue Dimension von Freiheit "in zartem Pastell" (Seite 52) schenkt. Trotzdem spüre ich gerade dadurch eine unausgesprochene Warnung davor, den schmerzbefreiten (statt nur betäubten) Geist nicht mit Weichzeichner zu tapezieren, sondern sich scharfe Konturen in kräftigen Farben zuzutrauen! Ich bin daher gespannt auf ihren nächsten Gedichtband...

 


Freie Radikale Lyrik. 13 Dichter vor ihrem ersten Buch (luxbooks.lyrik: labor)

Taschenbuch – 1. Oktober 2010 von Christian Lux (Herausgeber)

 

bis heute frei und radikal oder tot

Rezension aus Deutschland vom 22. Februar 2020

 

Bereits vor 10 Jahren erschienen, ist diese Anthologie immer noch ein wertvolles Nachschlagewerk zu Dichtern, die sich mittlerweile als feste Größen in der Lyrikszene etabliert haben. Vorallem wegen Thien Tran, den ich noch persönlich aus meiner Kölner Zeit in Erinnerung habe und der leider nicht mehr lebt, war ich auf dieses Buch gestoßen. Am meisten hat mich das kämpferische Nachwort begeistert, in dem der Herausgeber Christian Lux erklärt: "Mein Dank gilt ... allen Kulturpessimisten, weil es eine Freude ist, gegen sie anzupublizieren, schließlich den Controllern der Buchkonzerne, die es diesen unmöglich machen, Literatur zu verlegen." Die Dichter in diesem intensiven Band sind bis heute frei und radikal geblieben und betreuen teilweise auch eigene Projekte für andere Dichter. Daher lässt sich die Anthologie als Ausgangspunkt verwenden, um den weit verzweigten Stammbaum zu erkunden, der daraus erwächst...


Tiefgang: Gedichte, Gedanken und andere Ungereimtheiten - Teil 3

Taschenbuch – 8. Mai 2019 von M.P. Mondwinkel

 

EXISTENZIELLE ANDEUTUNGEN

Rezension aus Deutschland vom 26. November 2019

 

Ich entdeckte den Autor per Zufall: sein anderes Heft "Hochsensibel" wird gleich neben einem meiner eigenen Bücher unter dem Suchbegriff Gegenwartslyrik gelistet. Aber was ist Gegenwartslyrik? Aus der sogenannten Lyrikszene kenne ich Marco Patzschke-Großmann alias M.P. Mondwinkel nicht und dort würde man über ihn wohl eher milde schmunzeln (aus anderen Gründen als über mich, der ich im Glashaus sitze und mit Steinen werfe): er verfasst leicht lesbare Verse (ohne lyrisch aufgeblähte Geheimmetaphern!) über Smombies, Schafe und die Macht der Medien in einer abgeklärten Stimmung, die den gesellschaftlichen Alltag "distanziert betroffen" kritisiert, ohne dabei allzu sehr in die Tiefe zu gehen - es bleibt bei Andeutungen durch Schlagwörter und dazwischen gemischte biografische Bekenntnisse. Der eigentliche Tiefgang liegt viel mehr in der Ruhe, mit der die Gedanken lesbar sind, im meditativen Wind, den die Sprachbilder erzeugen, und der sich zwischen den Zeilen zu einem Sturm hochschaukeln kann, wenn man die angedeuteten Themen selbst weiterdenkt. Mondwinkel hält dem zeitgenössischen Mensch einen sanften moralischen Spiegel vor, in dem man zwar die Gesichtszüge scharf konturiert erkennt, aber die Selbsterkenntnis des dahinter liegenden Bewusstseins dem Leser überlassen bleibt. Mir ergeht es bei der Lektüre ähnlich wie bei Eugen Roth: das dünne Heft liest sich einerseits schnell und nebenbei, aber es löst ein existenzielles Grübeln aus, das heutzutage verloren zu gehen scheint. Insofern sind die Gedichte ein geschickter psychologischer Trick, um zum Lesen zu motivieren, wo die Blickrichtung normalerweise nicht auf (hoch)sensible Themen gerichtet wird. Es findet eine Sensibilisierung statt, ohne sich übermäßig anstrengen zu müssen, um die Lyrik zu verstehen. Das zu therapierende Klientel des Heftes müsste somit genau der kritisierte Typus "moderner Mensch" sein, der das Heft wohl kaum kaufen würde - ein Paradoxon der Kunst, das schon viele politische Künstler in die Verzweiflung getrieben hat. Ich würde mir wünschen, Mondwinkels Gedichte auf Instagram zu finden, mit Hashtags wie z.B. #einsamkeit und #weltschmerz, damit diejenigen drauf stoßen, denen weder verschwurbelte Szenelyrik noch Blümchenpoesie von Bloggerstars Seelenfutter ist! Ein entdeckenswerter Kollege und Zeitgenosse, dieser M.P. :-)

 


Verbannt!: Versepos (edition suhrkamp)

Taschenbuch – 1. Januar 2016 von Ann Cotten

 

ÜBERFORDERUNG DER PARTEILEITUNG

Rezension aus Deutschland vom 15. Juni 2019

 

Ist Ann Cotten inzwischen selber zur "überforderten Parteileitung" (S.161) der Lyrikszene mutiert? Ihre Bemerkung über Oskar Kabels Hoaxlyrik, dies sei prätentiöser Solipsismus oder Satire, nötigte mich, nochmals in ihren bisherigen Suhrkamp-Werken zu stöbern, um zu verstehen, wie diese Interpretation gemeint sein könnte: als arrogant vernichtende Pöbelei? oder wertschätzender Ritterschlag? oder gar selbst schon satirisch gemeint, quasi metasatirisch? - da ich Kabels Zyklus-Fragmente mitsamt Cotten-Zitat zunächst unreflektiert für das Forum/Poesiesalon des Offlyrikfestivals übernahm. Ann Cottens Versepos "Verbannt!" von 2016 liest sich wie Gischt von Wellenbrechern oder das Geschrei von Sirenen, während sie gefoltert werden: ohrenbetäubend delirisch an der Schmerzgrenze zur Inselpsychose, kurz vor dem Sadomaso-Orgasmus, als ob das gesamte Abenteuer (S.13: "jenes Abenteuer ... nur stattfand, weil Gedanken mir die Sinne raubten") ein einziger Blitzgedanke beim letzten Quickie (S.8: "Dichtung und Sex") auf der Toilette der Titanic in gefährlicher Schieflage gewesen wäre: apokalyptisch-schreibtherapeutische Weltschmerzdichtung mit metapoetischen und zugleich selbstironischen Tendenzen! Stilistisch überbordend an kryptisch-surrealen Metaphern, erinnern mich ihre geschraubten Gedanken (S.98: "Es schraubt sich das Bewusstsein in das Leben") an frühe Gedichte des Nahbellpreisträgers Jonas Gawinski, aber inhaltlich schwankt sie zwischen popliterarisch-analytischem Abgesang à la Michel Houellebeqc und der antiliterarischen Aufzählung von lexikalischen Begriffen (S.60+162: "See+..."), die wie eine Parodie auf Inger Christensen anmutet, deren Name sogar erwähnt wird: "Die Handlung - nach Inger Christensen - gibt es, doch nur als Untergrund" (S.8). Auf der Suche nach seiner Seele erkennt das lyrische Ann-Ich "Seele ist Besserwisserei ... Schluss mit dem müßig-mystischen Gelaber!" (S.63), möchte aber nicht ins allzu Alltägliche abgleiten: "Doch wenn ich lasch werde im Denken, so wie jetzt, / nutzt alle Jugend und Weiblichkeit nichts. / Während das breite Banale mir das Gehirn zerfetzt" (S.49). Ann Cotten spürt die "Notwendigkeit einer kritischen Sprache" (S.93); denn die "Giftigkeit des Normalen ist nicht zu unterschätzen" (S.94). Wie unter Schock schwankt dieses quasisexuelle Bedürfnis nach Weltgehalt (S.9: "Dichtung ... zu Sex ermuntert") zwischen der Kritik an realitätsfernen Dichtern im Elfenbeinturm (S.38: "ihre Süße ... kalte Füße") und der Selbstkritik: "ein jeder Vers schwillt an, da hohl, enthaltend zwar die ganze Welt, doch nicht verdoppelt, sondern wie außen, gänzlich dieselbe" (S.161) - und mündet einerseits in der Erkenntnis "Die Wirklichkeit ist blöd" (S.44), weshalb der "Realismus ... in den Irrsinn kippt" (S.44), aber andererseits auch im Eingeständnis, daß das "Internet der Dinge" (S.78) aufgrund der vielen Werbebanner hässlich sei. Obwohl sich das Internet außerdem als LSD-artiger "Zuckerschaum" (S.121+160) gegen die "Leere innen" (S.161) erweist, indem dort nur idealisierte Realität (S.126) feilgeboten wird, will die Autorin die virtuelle Ersatzwelt nicht den finalen Technokraten überlassen, sondern das Netz "ausmisten und besser verwenden" (S.121). Damit nimmt sie die Frage avantgardistisch vorweg, wie ein Digitalpakt didaktisch geistvoll statt sinnentleert funktionieren kann, ohne einer Schrauben-Religion zu huldigen. Trotzdem tauscht sie ihren eigenen "Großideenstrom", der die Herzen nicht mehr gewinnt (S.99), wie ein Moses auf dem Berg gegen Schrauben; denn: "Es ist der Weg der Schraube, den wir brauchen, / und nicht der Weg der Meditation." Die poetisch gekonnte Zeichnung auf Seite 100 zeigt dazu einen "Schraubentempel", der wie ein spiralförmiger Turm von Babel aussieht. Dort, visioniert die Dichterin, "ließe uns die Vertikale wie Rauch versuchen, / uns selbst verlierend gratis in das Nichts zu stoßen" (S.99, Satzbau angeglichen). Hat Ann Cotten nun also mehr als eine Schraube locker? Bereits auf Seite 62 schrieb die Autorin über das Nirvana wie eine postmoderne Verdrehung Schillers Ode an die Freude: "gen Himmel, wo in Funken ich ende und ihn begrüße, / den immateriellen Träger der Konstellationen: / das Nichts! In dem so viele helle Sterne wohnen". Doch eben das sei müßig-mystisches Gelaber, entgegnet ihr Goethe-ähnliches lyrisches Ich in faustischem Ton: "Das Weltgeheimnis ist gelüftet." (S.63) Doch die Autorin kann sich im gesamten Versepos nicht zwischen Mikroben und Metaphysik entscheiden, pendelt unaufhörlich zwischen schaumgeborener Aphrodite und schraubenverehrender Apokalypse hin und her, ohne einen gangbaren Mittelweg zu finden. In schierer Verzeiflung betet sie das Lexikon immer wieder herunter und fleht dabei, "der Mensch will funktionieren" (S.144) und dürfe seiner Melancholik nicht verfallen: "Sein Ahnen wird dann Mystik, seine Demut Dummheit" (S.151). Auf Seite 79 finde ich dann eine mögliche Antwort auf den Grund, warum ich das Buch überhaupt nochmal gründlich las: die Figur des "Pan Orama" als personifiziertes Internet kommt als Spion aus dem Kabel ("ruft es von im Kabel drin") und sagt: "Ich habe Klons gemacht und bin verrückt geworden. Zu künstlich. Zu gut." Auf Seite 113 wird seine Identität zudem beschrieben als: "hält sich an minimale Sprachwendungen, die durch perfektes Timing lustig sind" UND HAT EINEN SCHRAUBENZIEHER IN DER TASCHE! Das Wort "Kabel" wird darüber hinaus mehrere Male in diversen Variationen verwendet: Kabelnähte, Kabelende, "das" Kabel schlechthin (S.81) - ist Oskar Kabel etwa nur ein Pseudonym von Ann Cotten? Ihre eigene Satire? Dann wäre ihre Kritik an ihm bloß indirekte Eigenwerbung... Ihr Versepos "Verbannt!" ist jedenfalls ein originelles, vielleicht sogar genialisches Klagegebet gegen das "Koma der Welt" (S.54) und lässt sich für mich keiner Mikroszene des Lyrikbetriebs eindeutig zuordnen. Es ist alles andere als Gemüsedichtung und Schnöselliteratur, wenn auch nicht so progressiv wie beispielsweise Clemens Schittko. Cotten beweist einfach nur auf wunderbare Weise die viel zu seltene Möglichkeit, daß durchgeknallte Undergroundliteratur dank eines Großverlages leicht zu Mainstream werden kann. Hoffentlich lässt sie sich niemals vom biederen Establishment verbiegen, sondern bleibt ihrer eigenen schrägen Art treu!


Ich bestatte ein Eichhörnchen

Taschenbuch – 9. Oktober 2023 von Ulrich Jösting

 

Die Zeit hat ihre Farbe verloren: Gedichte

Taschenbuch – 17. August 2023

 

Doppelrezension: BEERDIGUNGEN, MIT ODER OHNE BLUMEN (JENSEITS VON ZWANGSLYRIK UND ZWECKLYRIK)

Rezension aus Deutschland vom 18. Oktober 2023 für Jösting & Schnabel

 

Bevor ich mich in die beiden Neuerscheinungen stürze, werfe ich einen Blick in einen etwas älteren Gedichtband aus einem anderen, sogenannten "etablierten" Lager, um mir nochmal zu vergegenwärtigen, warum ich mit allzu korrekter Förderlyrik nichts anfangen kann, mich sogar fremdschäme, wenn zu konventionelle, abgedroschene Klischees bedient werden und die hermetischen Sprachbilder mit verschwurbelter Lyrikgrammatik alles richtig machen, was man falsch machen kann, um als zeitgenössisch, modern und eben "lyrisch" zu gelten und sich dabei als komplett überflüssig selbst zu beerdigen. Wäre das beim Lesen notwendigerweise angewandte Prädikat "wertfrei" (also vorurteilsfrei) eine Preiskategorie, müssten eine Menge mehr Szenedichter*innen beachtet werden, aber da sich die Klischees sowieso wiederholen, beschränke ich mich auf die Lektüre jener Lyrikklons, von denen es günstige Gebrauchtexemplare gibt. So viel Fremdeinleitung musste jetzt leider sein, um endlich beim zweiten Bettkaffee zu den beiden Büchern überzugehen, auf die ich mich wirklich freue und durch deren Inhalt ich mich hoffentlich nicht genauso quäle wie durch die berühmte Förderlyrik, Preisträgerpoesie, Stipendiengedichte, Institutsreime, Festivalverse, eben Lyriklyrik, die mir nichts sagt außer dass sie unbedingt gute Lyrik sein will und dabei noch peinlicher wirkt als Hobbylyrik, weil sie unbedingt als Berufslyrik wahrgenommen werden möchte. Zwangslyrik von Berufslyrikern sozusagen. Mal sehen, was die beiden Neuerscheinungen dagegen halten können. Die komparatistische Methode hat einen immensen Vorteil: man muss nicht an einen abstrakten literarischen Maßstab glauben, um Gedichte für interessant, originell, authentisch und zeitgemäß zu halten, sondern kann einfach einzelne Sprachbilder, die Aufmachung der Bücher und die Themenschwerpunkte miteinander vergleichen, um einen Sinn und Zweck der Gedichte zu ergründen. Wobei sie sich auch nicht als Zwecklyrik verraten dürfen; denn das wäre nur eine "engagierte" Variation der narzißtisch gestörten Zwangslyrik. Also mal schauen...

 

Mir liegen vor: der Gedichtband "Ich bestatte ein Eichhörnchen" von Ulrich Jösting (erschienen am 9.10.2023 im BoD-Selfpublisher) und "Die Zeit hat ihre Farbe verloren" von Sigune Schnabel (erschienen am 17.8.2023 im Geest-Verlag). Beide Kollegen sind mir aus eigenen Projekten vertraut: eine Textauswahl von Ulrich befindet sich schon seit einigen Jahren im Poesiesalon.de und 2020 gewann Sigune den 21.Nahbellhauptpreis (poesiepreis.de), der leider nicht in ihrer Vita auf der Buchrückseite erwähnt wird. Dort findet sich lediglich eine Auswahl aller wichtigen Preise ihres steilen Aufstiegs in den Szenehimmel, zu denen der Nahbellpreis offenbar nicht zählt. Verständlich, denn dieser symbolische Antipreis ist eine sarkastische Provokation gegen all jene "echten" Preise, die man in der Lyrikszene gerne vorweist, um ernst genommen zu werden. Mit dieser Unterschlagung des "höchstdotierten alternativen Lyriknobelpreises" biedert sich der Geest-Verlag automatisch bei den Kollegen der Fraktion Zwangslyrik an und die Schnabel degradiert sich auf die Stufe einiger anderer Nahbeller, die schon seit vielen Jahren ebenfalls keine Werbung für die Sache machen und damit das Preisgeld als letzte (am liebsten gar nicht, aber ich stehe zu meinem Wort!) erhalten würden, falls sich jemals ein Mäzen finden ließe. Nun gut, auch dieser kleine Seitenhieb musste jetzt sein, wenn man bedenkt, wie viel angestaute Wut über die bornierte Ignoranz der "Literaturmafia" (Begriff erstmals vor zwei Jahrzehnten im Sonetten-Dunstkreis von HEL ToussainT gehört) in mir brodelt. Thomas Bernhard würde vor Genugtuung schallend lachend im Grabe Sektkorken knallen lassen! Aber das ist ein anderes Kapitel. Auf der Buchrückseite bei Jösting findet sich gar keine Vita (noch nicht einmal Baujahr, Beruf und Wohnort!), sondern eine literaturwissenschaftliche Selbstbeschreibung des Autors, die durchaus ironisch gemeint sein könnte, da er literaturtheoretische Kategorien durch paradoxe Begriffsfusionen maßlos überspitzt und dadurch eigentlich nur eines verrät, worin der externe Klappentext mündet: "zwischen bedeutungslosem Unsinn und tiefsinniger Tragweite". Das grenzt an Dada und gefällt mir sehr gut: man ertappt sich selber dabei, dass man gerne was Geistreiches erfahren hätte, aber gezwungen wird, die "Textkreationen" tatsächlich zu lesen, um möglicherweise passende historische Einordnungen zu entdecken oder zu bemerken, dass es darum eben gerade nicht geht. Was mich zu einer anderen Überlegung verleitet: welche berühmten Kollegen könnten als Vorbilder für die beiden taugen? Beim Lesen einiger Gedichte von Sigune Schnabel denke ich unwillürlich an Rose Ausländer und Claire Goll - beide habe ich übrigens in einer bestimmten Phase meines Lebens sehr gemocht. Dagegen erinnern mich Jöstings Lyrikkreationen irgendwie an die Hoaxlyrik von Oskar Kabel und aufgrund der brutal klobigen grafischen Gestaltung würde ich auch einer Werbeagentur zutrauen, solche etwas Cut-up-verdächtigen Texte als Lyriktest auf Produkten zu platzieren, nur um sich darüber köstlich zu amüsieren, dass heutzutage alles als Lyrik durchgeht, was mit Zeilenumbrüchen arbeitet. Aber so leicht macht er es mir nicht und zudem ist diese Doppelrezension ganz und gar nicht als Verriss gemeint; denn ich schätze beide Autoren sehr und lese ihre Gedichte gerne. Die Schnabel schreibt durch und durch "ehrlich" und blumig, sie schöpft aus dem bildgewaltigen Fundus lebensgeschichtlicher Emotionen des lyrischen Ichs mit synästhetischen Anlehnungen an den Expressionismus, wenn z.B. "die Astgabeln einen neuen Tag weiß füttern" (im "Lied der Enkel" auf Seite 21). Aber auch Jösting scheint aus autobiografischer Notwendigkeit zu schreiben und lässt sich sogar zu gewollt überexpressiven Alliterationen verleiten, die den experimentellen Charme der avantgardistisch anmutenden grafischen Gestaltung beinahe sabotieren: "wenn ich doch nur könnte / nur eine kleine Lüge noch die / weiter hier unter den fremden Sonnen / tausend Tränen vergießt" (im Gedicht "für immer" im Abschnitt "Lebensraum", ohne Seitenzahlangabe). Ich frage mich spontan, wie es wirken würde, wenn die Buchgestaltung der beiden Lyriker vertauscht würde? Wenn die Schnabel typografisch aufgedonnert mit minimalistischer Geometrie im Schrifttyp Arial wie ein Jösting daherkäme und das Werk von Jösting behutsam linksbündig ohne Hervorhebungen in Times New Romanes gesetzt wäre. Ich ahne das Ergebnis vor meinem geistigen Auge: Sigunes Gedichte würden geradezu kitschig wirken, da der unpassende Kontrast zur strengen, kühlen, postmodernen Typografie zu gewollt, zu bemüht wäre und das Feinsinnige ihrer Reflexionen als grafisches Gebrüll nicht funktioniert. Sigunes poetische Assoziationen benötigen den feinen, ruhigen, unprätenziösen Schrifttyp, der zur stillen Verinnerlichung ihrer beinahe psychotherapeutischen Verarbeitung der Wirklichkeit beiträgt. Und Jösting muss seine fast unerträglich existenzialistischen Selbstsezierereien so brutal laut layouten, damit sich Form und Inhalt auf höchst sonderbare Weise gegenseitig neutralisieren. Fett gedruckte Zeilen in übergroßer Schrift wie z.B. "kein gebrüll kein gesang / warmes bett / der benachbarte raum voll / asche" verlieren ihre panisch anmutende Hitzigkeit absurderweise gerade durch die Präsentation wie eine Grabinschrift. Seine Texte wirken insgesamt wie in Stein gemeißelte Tabubrecher. Wie der Abgesang auf ein Leben, das nicht mehr gewollt ist, eine Haltung, die rückblickend klar definiert und dekonstruiert werden kann - das ICH wird als Eichhörnchen der Seele enttarnt und konsequent beerdigt. Grandios, jetzt nach dieser Erkenntnis muss ich den ganzen Band erneut von vorne lesen, um mir die Schlagkraft dieser Bestattung nochmal bewusster zu gönnen! Auch Schnabel bereitet eine apokalyptische Atmosphäre der Desillusionierung und Selbstsabotage, nur eben zarter, verspielter, blumiger, wenn sie einerseits mit ihrer eigenen Lebensmotivation und andererseits mit der ganzen Zivilisation abrechnet. In den Zeilen "Als ich jung war, / trug ich Soldaten auf den Schultern." (im Teil IX des Liedes der Kriegsgötter auf Seite 121) und in der Gesellschaftsanalyse "Nachts gehe ich durch Männer, / weil sie nicht wissen, / dass sie schon tot sind." offenbart Sigune Schnabel einen schneidenden Blick auf die menschlichen Abgründe. Auch bei ihrem Gedichtband habe ich jetzt das Bedürfnis, nochmal von vorne zu beginnen, beim Kapitelzyklus "Kindheit", der im Teil II vom lyrischen Ich behauptet: "Wenn ich groß bin, / will ich ein Eichhörnchen sein." Dem Leser wird von beiden Dichtern abverlangt, ihre starken Selbsterkenntnisse ironisch oder ernst gemeint zu lesen. Aber darum geht es beiden gar nicht primär. Was ihre anspruchsvolle Lyrik auszeichnet, ist das schonungslose Aussprechen von tabuisierten Gefühlen. So wie sie sich selber nicht verschonen, so nehmen sie auch den Leser mit auf ihre Reise in den Abgrund der Seele und legen eine tieferliegende Sehnsucht nach Wahrheit, Ehrlichkeit und Sinnhaftigkeit für das Wunder Leben frei. Ich danke den Autoren für diese anregende Lektüre und würde mich freuen, sie eines Tages gemeinsam auf der Bühne zu hören!

 

DAS WICHTIGSTE ZUSAMMENGEFASST:

 

Jösting scheint aus autobiografischer Notwendigkeit zu schreiben. Seine Texte wirken wie in Stein gemeißelte Tabubrecher. Er muss seine fast unerträglich existenzialistischen Selbstsezierereien so brutal laut layouten, damit sich Form und Inhalt auf höchst sonderbare Weise gegenseitig neutralisieren. Fett gedruckte Zeilen in übergroßer Schrift verlieren ihre panisch anmutende Hitzigkeit absurderweise gerade durch die Präsentation wie eine Grabinschrift. Was seine anspruchsvolle Lyrik auszeichnet, ist das schonungslose Aussprechen von tabuisierten Gefühlen. So wie er sich selber nicht verschont, so nimmt er auch den Leser mit auf seine Reise in den Abgrund der Seele und legt eine tieferliegende Sehnsucht nach Wahrheit, Ehrlichkeit und Sinnhaftigkeit für das Wunder Leben frei.

 

Schnabel schreibt durch und durch "ehrlich" und blumig, sie schöpft aus dem bildgewaltigen Fundus lebensgeschichtlicher Emotionen des lyrischen Ichs mit synästhetischen Anlehnungen an den Expressionismus. Ihre poetischen Assoziationen benötigen den feinen, ruhigen, unprätenziösen Schrifttyp, der zur stillen Verinnerlichung ihrer beinahe psychotherapeutischen Verarbeitung der Wirklichkeit beiträgt. Was ihre anspruchsvolle Lyrik auszeichnet, ist das schonungslose Aussprechen von tabuisierten Gefühlen. So wie sie sich selber nicht verschont, so nimmt sie auch den Leser mit auf ihre Reise in den Abgrund der Seele und legt eine tieferliegende Sehnsucht nach Wahrheit, Ehrlichkeit und Sinnhaftigkeit für das Wunder Leben frei.

 


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