Rezension aus Deutschland vom 20. Januar 2020
Mein Exemplar hat einen genialen Druckfehler: der gesamte Inhalt wurde verdoppelt! Das könnte man für eine paranormale oder paranoide Folge des Titels "HOAXLYRIK" halten: der
Hoaxvirus klont sich selbst... Aus 24 wurden 48 Seiten, eine zweite Erde und ein Zwillingshirn: das passt perfekt zu der apokalyptischen Atmosphäre, die von dieser dystopischen
Fraktallyrik ausgeht. Der Autor eröffnet das düstere Szenario mit einer als Raumschiff getarnten Bibliothek, die der Belagerung durch Aliens entkommt, weil diese den Büchern keine
Bedeutung abgewinnen können, da sie "sprachlos" sind. Im 4.Fragment erklärt Oskar Kabel dann indirekt seine Poetologie der progressiven Poesie: "die natur ist. in progress." Mit dieser
Haltung einer Entwicklungspoesie anstatt prätentiöser Zwangsavantgarde lesen sich diese ersten zwanzig Fragmente seines geplanten 1000-teiligen Zyklus' wie ein oszillierendes (oder:
oskalierendes!) Psychogramm der Menschheit auf der Schwelle zur neuronalen Digitaldystopie. In seinen Stakkatomix aus schockierenden Interpretationen von Weltproblemen und
verschwörerischen Visionen mischt das lyrische Ich ein paar wenige Häppchen psychophilosophischer Hoffnung, die aber sofort wieder zynisch entkräftet wird. Am Ende ist man derart
erschlagen von Kabels Wucht der brutalen Zivilisationskritik, daß man die Schlußzeile des 19.Fragments geradezu als Erlösung vom (Welt)Schmerz empfindet: "urschreie. sinnfragen. reset
button." Danach meint man, könne im Grunde nichts mehr kommen, aber stattdessen überrascht das finale 20.Fragment mit einem beinahe versöhnlichen, tröstenden Tonfall, wenn der recht junge
Lyriker schreibt: "dieses gedicht. findest du. weder auf / twitter. noch auf instagram. (...) dies ist der. / letzte virus. der sich. noch. analog. / verbreitet." Jetzt wird mir klar,
warum er diesen Debutband doch nicht als ebook veröffentlicht hat, obwohl es so ursprünglich auf Facebook angekündigt war. Eine erfrischende Eröffnung des neuen Buchjahres, eine Poesie,
die weder hermetische Metaphern verwendet noch Slamjargon - das ist authentische gute Poesie, die unter die Haut geht, von Parodie keine Spur!